Las Vegas. Box-Weltmeister im Supermittelgewicht verteidigt in der Nacht zum Sonntag in Las Vegas seinen Titel gegen Gilberto Ramirez.

Gerade noch hatte er über die Musikauswahl geklagt, die der Fahrer auf dem Weg zum Nachmittagstraining getroffen hat, als ein Blick aus dem Autofenster Arthur Abrahams Laune schlagartig hebt. Im Wagen nebenan sitzt ein Mann am Steuer, der sich als Clown kostümiert hat und anlässlich der Spendensammelaktion „Red Nose Day“ eine überdimensionierte rote Plastiknase trägt. „Guck mal, Marco Huck“, sagt Abraham. Alle lachen. Der Champion lehnt sich zurück. Volltreffer. Wieder einmal.

Boxer sind vor einem wichtigen Kampf oftmals schwer zu ertragen, und ein solcher ist die Pflichtverteidigung seines WBO-WM-Titels im Supermittelgewicht gegen den Mexikaner Gilberto Ramirez in der Nacht zum Sonntag (2 Uhr MESZ/Sky und ranfighting.de live) in der MGM Grand Arena in Las Vegas für Abraham allemal, Mal gefällt ihnen die Musik nicht, mal ist das Trinkwasser nicht kalt oder das Auto nicht sauber genug, und das Gewichtmachen, das strenge Disziplin bei der Nahrungsaufnahme erfordert, sorgt sowieso für Missmut. Aber Abraham hat versucht, sich seine Lockerheit zu bewahren, und das ist gut so. Denn eigentlich ist das, was vor ihm liegt, mehr als das, was er sich erträumt hat damals, als er 1995 mit seinen Eltern und seinem Bruder Alexander, 34, aus Armenien nach Deutschland kam.

Ein breites Lächeln legt sich auf das Gesicht des 36-Jährigen, wenn er sich bewusst macht, wie lang der Weg war, an dessen Ende er nun vor der Chance steht, Geschichte zu schreiben. „Ich bin stolz und glücklich, dass ich die Möglichkeit habe, als erster deutscher Boxer einen WM-Kampf in Las Vegas zu gewinnen“, sagt er. Noch könne er den Stellenwert dessen, was er erreicht hat, nicht einordnen. „Aber wenn ich irgendwann zurückschaue auf meine Karriere, dann wird mir das sicherlich bewusst werden.“

Ulli Wegner ist in der Einordnung schon weiter. „Arthur kann sich unsterblich machen, wenn er gewinnt“, sagt der Cheftrainer, der vor 13 Jahren, als Abraham vom Berliner Sauerland-Stall zum Sparring mit Sven Ottke verpflichtet wurde und mit nichts mehr als einer Sporttasche und 15 Euro ankam, dessen Begabung erkannte. Abraham ist der letzte verbliebene Athlet aus der damaligen Trainingsgruppe, was angesichts des strengen Regiments des 73-Jährigen viel über die Willensstärke des Champions sagt. Natürlich klagt er oft über seinen „Diktator“, wie er Wegner nennt. Aber er weiß auch, welchen Anteil Wegner am Erfolg hat.

Der Coach erinnert sich dieser Tage gern an den Abend, der Abraham in der Boxwelt berühmt machte. An den 23. September 2006 in Wetzlar, als er seinen IBF-Titel im Mittelgewicht gegen Edison Miranda trotz eines doppelten Kieferbruchs erfolgreich verteidigte. „Ich habe Arthur damals verspottet, weil er über Schmerzen klagte. Dem Ringrichter habe ich erzählt, er hätte sich auf die Lippe gebissen und würde deshalb aus dem Mund bluten. Aber natürlich wusste ich, was los war. Wenn meine Mutter noch gelebt hätte, hätte sie sich für mich geschämt, dass ich ihn weiterboxen lassen habe. Aber dass Arthur sich durchgebissen hat, war der Beweis seiner Willensstärke“, sagt Wegner. Abraham glaubt, dass ihn die Angst vor dem Trainer zum Durchhalten trieb. Als der Coach ihn nach der Operation im Krankenhaus besuchte, fragte er ihn nuschelnd: „Habe ich nun einen Willen oder nicht?“

Die Antwort darauf hat Avetik Abra­hamyan, so sein Geburtsname, seitdem viele Male im Ring gegeben. In Deutschland ist der Mann, der zu Beginn seiner Karriere in Anlehnung an Vater Abraham mit einer Schlumpfmütze zum Ring marschierte, einer der wenigen verbliebenen Topstars. Sat.1 als Exklusiv-TV-Partner seines Berliner Promoters Sauerland versucht nicht ohne Grund, mit dem anstehenden Kampf das Experiment Pay-per-view – eine Extragebühr von 17,99 Euro wird fällig, um das Duell live zu sehen – im deutschen Markt zu wagen.

In den USA kostet der Kampfabend beim Branchenprimus HBO sogar 59,95 Dollar, allerdings ist Bezahlfernsehen in Übersee weitaus verbreiteter als in Deutschland. Zudem dürfte der anschließende Hauptkampf zwischen Superstar Manny Pacquiao, 37, und WBO-Weltergewichtschampion Timothy Bradley, 32, aus den USA ein gewichtiges Kaufargument sein. Es soll schließlich der 66. und letzte Profikampf (bisher 57 Siege) des 1,69 Meter großen Filipinos werden.

Dass Abraham auf dem weiter wichtigsten Boxmarkt der Welt kein Unbekannter ist, konnte man in den vergangenen Tagen besichtigen. Plakate mit seinem Konterfei waren in der Zockermetropole in der Wüste Nevadas zwar nicht zu sehen, auf allen Werbetafeln waren die grimmigen Gesichter von Bradley und Pacquiao zu bestaunen. Dennoch gibt es aufmunternden Applaus von 500 Fans, als der Wahlberliner zur Autogrammstunde im riesigen Lobbybereich des MGM-Hotelkomplexes erscheint. „Ich werde hier oft erkannt. Die Boxfans wissen, wer ich bin“, sagt er. Dan Rafael, einer der renommiertesten Boxreporter Amerikas, der für den Medienkonzern ESPN arbeitet, bestätigt das: „Die Leute wissen, dass Abraham ein anerkannter Champion ist. Allerdings hat er hier durch seine furchtbaren Auftritte im Super-Six-Turnier nicht den besten Eindruck hinterlassen. Das muss er gegen Ramirez korrigieren, was ich ihm aufgrund seiner Erfahrung zutraue.“

2008, bei seinem ersten Auftritt in den USA, besiegte Abraham in Hollywood (Florida) „Kieferbrecher“ Miranda im Rückkampf durch technischen K. o. in Runde vier. Dann folgten jedoch nach dem Wechsel der Gewichtsklasse die Niederlagen im Super-Six-Turnier, im März 2010 in Detroit durch Disqualifikation gegen Andre Dirrell, 14 Monate später in Carson deutlich nach Punkten gegen Andre Ward.

Das in den USA nötige Showtalent, um seinen Auftritt anzuheizen, hat er im Blut. Auf der Pressekonferenz im Medienzentrum der MGM Grand Arena sitzen die sechs Protagonisten der drei wichtigsten Vorkämpfe auf dem Podium. Vier von ihnen sind Latinos, was ein Zeichen sein soll. Das Motto des Abends lautet „No Trump“, weil Promoter Bob Arum im tobenden Wahlkampf um das US-Präsidentenamt als demokratischer Anhänger von Hillary Clinton ein Zeichen gegen den republikanischen Haudrauf Donald Trump setzen will. Dieser hatte mit rassistischen Ausfällen gegen Mexikaner Arum gegen sich aufgebracht.

Am vergangenen Sonntag traf Abraham in Las Vegas sein Idol Mike Tyson

Der 84-Jährige, als ehemaliger Steuerfahnder im US-Justizministerium politisch sehr bewandert, spannt den Bogen von Trump zum türkischen Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren. Abraham hört aufmerksam zu, dann geht er ans Rednerpult und sagt martialisch: „Die Fans dürfen eine Schlacht erwarten, wie es sie seit Jahren nicht gegeben hat.“ Mit Trump habe er nichts am Hut, „das ist nicht meine Sache. Aber dass Arum sich dagegen engagiert und dass er den Genozid erwähnt, finde ich toll. Es ist wichtig, dass solche Dinge angesprochen werden.“

Arthur Abraham weiß, dass der Kampf gegen den 1,89 Meter großen und damit 14 Zentimeter größeren, zwölf Jahre jüngeren und in 33 Kämpfen unbesiegten Rechtsausleger seine letzte Chance ist, die Amerikaner von seinem Können zu überzeugen. Dafür hat er alles, was ablenken könnte, zu verdrängen versucht. Um Las Vegas länger genießen zu können als in den abendlichen Ausflügen ins Casino, die mit einem 100-Dollar-Limit kurz gehalten wurden, wird er nach dem Kampf eine Woche Urlaub anhängen.

Den in seiner armenischen Heimat aufgeflammten Krieg mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach versucht er aus dem Kopf zu verbannen, „auch wenn es mir sehr schwer fällt und ich nur alle aufrufen kann, diesen Wahnsinn sofort zu beenden“. Und selbst die Bestimmung des Geschlechts seines ersten Kindes, das seine in Jerewan gebliebene Ehefrau Mary erwartet, hat er in die Zeit nach seiner Rückkehr verschoben. „Jetzt zählt nur, hier die Menschen von meinem Können zu überzeugen“, sagt er.

Inspiration dazu holte sich „König Arthur“ bei dem Mann, der ihn einst zum Boxen verleitete. Mike Tyson, der Knock-out-Gigant vergangener Tage im Schwergewicht, tritt in Las Vegas mit seiner Show „Undisputed Truth“ (Unbestrittene Wahrheit) auf. Für 282 Dollar können Fans sich das Recht auf ein Foto und ein kurzes Gespräch mit dem „Eisernen Mike“ erkaufen. Abraham nutzte das. Er stieg zu Tyson aufs Podium, stellte sich brav vor und erklärte seinem Idol, dass er ihm die Inspiration fürs Boxen zu verdanken habe. Tyson riet ihm, sich gegen Ramirez nicht auf die Punktrichter zu verlassen. „Knock-out“ rief er dreimal.