München/Berlin. Der Münchner nimmt die Binde von Bastian Schweinsteiger. Bundestrainer Joachim Löw macht sich Sorgen um die deutsche Ordnung.

Bayern Münchens Sturmstar Thomas Müller wird die deutsche Nationalmannschaft am Dienstagabend (20.45. live ARD und abendblatt.de) im Länderspiel gegen Italien erstmals als Kapitän anführen. Das gab Co-Trainer Thomas Schneider wenige Stunden vor dem Anpfiff des Freundschaftsspiels in der Münchner Allianz-Arena bekannt. „Heute haben wir uns für Thomas Müller entschieden, er wird die Mannschaft in 'seinem' Stadion aufs Feld führen“, sagte der Assistent von Bundestrainer Joachim Löw zur Auswahl des Ersatzkapitäns für den verletzt fehlenden Amtsinhaber Bastian Schweinsteiger. Bayern-Profi Müller bestreitet gegen die Italiener sein 70. Länderspiel.

Außerdem verriet Schneider vorab, dass Marc-André ter Stegen für Stammkeeper Manuel Neuer (Magenverstimmung) im Tor stehen werde. Für den 23 Jahre alten Schlussmann vom Champions-League-Sieger FC Barcelona ist es sein fünftes Länderspieleinsatz. Zur Auswahl für das Tor hatten auch die beiden Länderspiel-Neulinge Bernd Leno (Bayer Leverkusen) und Kevin Trapp (Paris St. Germain) gestanden.

Sami Khedira verbrachte Ostern auf der Couch

Der Ausblick hätte an diesem Ostermontag schöner nicht sein können. Aus dem 13. Stock eines Münchner Autohauses an der Arnulfstraße konnte Sami Khedira am Mittag die Frauenkirche bestaunen, den Olympiaturm, natürlich die Allianz Arena, und ganz hinten am Horizont lugten die noch immer schneebedeckten Alpen hervor. „Schön hier“, sagte der Italien-Legionär, der den Ostersonntag im Kreise seiner Familie genossen hatte („Ich habe mich keinen Millimeter von der Couch bewegt“) und erst am Vortag des Fußballklassikers zwischen Deutschland und seiner Wahlheimat (Di, 20.45 Uhr/ARD) in Bayerns Hauptstadt angereist war.

Nun waren am Montagmittag allerdings weniger Münchens Panorama-Sehenswürdigkeiten als viel mehr eine Übersicht über das fast ausverkaufte Länderspiel gegen die Squadra Azzurra und die im Sommer anstehende EM gefragt. Und dieser Ausblick, da versuchte Khedira gar nicht erst um den heißen Brei herumzureden, wirkte spätestens nach dem 2:3 gegen England am Sonnabend selbst aus dem 13. Stock heraus nicht ganz so prächtig. „Es ist gut, dass uns in so einem Spiel wie gegen England gerade noch rechtzeitig die Augen geöffnet wurden“, sagte der Profi von Juventus Turin, der im Spiel gegen Italien ein anderes Auftreten der deutschen Mannschaft anmahnte: „Die Geschlossenheit der ganzen Mannschaft hat gegen England nicht gestimmt.“

Löw bilanziert nach England-Spiel: „Organisation war nicht gut“

Die Geschlossenheit also. Im Fußballjargon wahlweise auch als Kompaktheit, Ordnung oder Abstimmung bezeichnet. Es sind Schlagwörter, mit denen man für sich wahrscheinlich nur wenig anfangen kann, die Joachim Löw allerdings nicht nur zu Ostern heilig sind. Der Bundestrainer sprach nach dem wilden 2:3 gegen England, als seine Mannschaft nicht zum ersten Mal eine 0:2-Führung aus der Hand gegeben hatte, von einer „Lehrstunde“ und präzisierte mit gefrorenen Gesichts­zügen: „Das war sehr ärgerlich. Unsere Organisation war nicht gut, und es sind viel zu große Lücken entstanden.“

Dem Weltmeister ist in Berlin genau das passiert, was der DFB-Auswahl vor vier Jahren beim legendären 4:4 gegen Schweden schon einmal in Berlin passiert war: Deutschlands Fußballelite hatte ganz einfach die Kontrolle über das Spiel verloren. Das wäre insofern nicht weiter tragisch, wenn es sich hierbei um ein nicht zu erklärendes, berlinspezifisches Problem handeln würde. Doch zur ganzen Wahrheit gehört dummerweise auch, dass Ähnliches der deutschen Mannschaft gerade nach der WM in Brasilien viel zu oft auch in anderen Städten, Ländern und Stadien passiert ist. In Warschau zum Beispiel, als Deutschland vogelwild spielte und im zweiten EM-Qualifikationsspiel 0:2 gegen EM-Gruppengegner Polen verlor. Oder in Dublin, als Irland dem Weltmeister vor knapp einem halben Jahr mit 1:0 die Grenzen aufgezeigt hatte. Von 16 Spielen nach dem WM-Finale in Maracana hat Deutschland sechs verloren. Das 2:3 gegen England darf also als letzte Warnung verstanden werden. „Uns muss klar sein“, so Mario Gomez, „dass so ein Spiel beim Turnier die Heimreise bedeutet.“

Über Bundestrainer Löw weiß man, dass er sich entgegen immer wieder kolportierten Gerüchten die Haare nicht färbt, er zu viele Süßigkeiten isst, Gelegenheitsraucher ist – und dass ihm nicht vieles so sehr Kopfschmerzen bereitet wie der Kontrollverlust während eines Spiels. Am Tag nach dem Spiel ließ er deswegen zunächst die Partie gegen England durch die Assistenztrainer Thomas Schneider und Marcus Sorg nachbereiten, um am Ostermontag das Geschehene noch einmal gemeinsam zu analysieren: „Wir hätten eigentlich Ruhe ins Spiel bringen und auf Ballbesitz spielen müssen.“

Der irrationale Italien-Komplex

Am Dienstagabend geht es folglich nicht nur darum, diesen irrationalen Italien-Komplex – seit mehr als 20 Jahren konnte Deutschland nicht mehr gewinnen – zu bekämpfen. Für Löw geht es vor allem auch darum, im letzten Spiel vor der Benennung des vorläufigen EM-Kaders Antworten auf immer noch viel zu viele Fragen zu finden.

So gab Ersatzkapitän Khedira, der am Sonnabend die Binde des Spielführers vom verletzten Bastian Schwein­steiger übernommen hatte, zwei Tage nach dem 2:3 gegen England unumwunden zu, dass dieser Kontrollverlust auch den Spielern während der Partie in Berlin aufgefallen war, man aber keine Lösung parat hatte. „Wir haben das auf dem Spielfeld gemerkt und haben das auch angesprochen. Aber wir haben es einfach nicht mehr geschafft, das zu kompensieren. Wir hatten ein viel zu großes Loch im Mittelfeld.“ Das Bermudadreieck im Zentrum war auch Thomas Müller nach dem 2:3 aufgefallen: „Die, die vorne waren, wollten drauf gehen. Die, die hinten waren, wollten nicht drauf gehen. Und so sind dann ein paar Lücken entstanden.“

Gegen Italien sollen allerdings nicht nur die Lücken im Mittelfeld geschlossen, sondern auch die nächste Abwehrformation im Hinblick auf die EM ausprobiert werden. Das Spiel gegen England hat verdeutlicht, dass Löw im Zentrum auf Mats Hummels und Jerome Boateng angewiesen ist. Noch weniger Auswahl hat der Coach auf den Außenpositionen. Links dürfte Kölns Jonas Hector aus Mangel an Alternativen gesetzt bleiben, die rechte Seite bleibt vakant. In 16 Spielen seit der WM probierte Löw sechs Kandidaten aus, überzeugen konnte keiner. Außerplanmäßig wird Marc-André Stegen gegen Italien im Tor stehen. Manuel Neuer (Magenverstimmung) reiste am Montag aus dem DFB-Quartier ab.

„Alles, was vor der EM ist, ist Testmodus“, relativierte Müller. „Wichtig ist, dass wir vor allem in der direkten Vorbereitung gut sind. Da können wir inhaltlich arbeiten.“ Recht hat er, der Müller. Und trotzdem: Zweieinhalb Monate vor der EM könnten die Aussichten besser sein.