Berlin. Der Bundestrainer kann sich kurz vor den letzten EM-Härtetests in Berlin und München nicht nur um Fußball kümmern.

Der Weg war kurz für Joachim Löw. Von seiner Zweitwohnung in der Nähe des Potsdamer Platzes in Berlin, in der der Bundestrainer seit Freitag weilte, kann man zum Grand Hyatt, dem Teamhotel der deutschen Nationalelf, spazieren. Der Bundestrainer hatte sich auf dieses erste Treffen des Jahres und die beiden Länderspiel-Klassiker gegen England am Sonnabend (20.45 Uhr, ZDF) sowie Italien drei Tage später in München gefreut. Mit den Testpartien wollte er Aufbruchstimmung zweieinhalb Monate vor Beginn der EM in Frankreich erzeugen. Ein „Jetzt geht’s aber los“ sollte es werden. Aber erst einmal holte Löw die Vergangenheit ein.

Die Terroranschläge von Brüssel erschütterten auch den Weltmeister. Zu präsent waren noch die Eindrücke, als das Team des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) um Kapitän Bastian Schweinsteiger nach den Attentaten von Paris am 13. November 2015 bis in den Morgengrauen verängstigt im Bauch des Stade de France verharren musste. Nun, vor dem ersten Länderspiel seit Paris, ist die Angst zurück. Aber auch ohne angespannte Sicherheitslage hat Löw ein paar Sorgen. Der Weg, es Helmut Schön (1972 und 1974) nachzumachen und neben dem WM- auch den EM-Titel zu gewinnen, ist noch ein ziemlich weiter.

Es sind vier Baustellen, an denen Löw bis zum ersten EM-Gruppenspiel gegen die Ukraine am 12. Juni zu werkeln hat: die Abschlussschwäche, das Abwehrpersonal, die Causa Schwein­steiger und die Frage nach der Hierarchie im Tor hinter der Nummer eins Manuel Neuer. Eine andere Baustelle, der unrühmlich aufgefallene Max Kruse, hatte Löw schon am Montag geschlossen.

„Offenbar holen ihn derzeit Vorkommnisse und Probleme – auch aus seiner Vergangenheit – ein, die weder er noch wir steuern können“, sagte Geschäftsführer Klaus Allofs von Kruses Club VfL Wolfsburg am Abend. „Max Kruse hat sich aufrichtig entschuldigt. Wir haben bei der Aufarbeitung den Eindruck gewonnen, dass er dringend unsere Hilfe benötigt.“ Eine Suspendierung sei kein Thema.

Die Nationalmannschaft hat andere Sorgen. „Wenn wir ehrlich sind, hätten wir in unserer aktuellen Verfassung keine Chance“, hatte Sami Khedira zu Jahresbeginn auf die Frage geantwortet, ob Deutschland Europameister werden kann. Löw gab ihm nun recht: „Wenn wir unsere Form nicht verbessern, wird es schwer“, sagte er. Nach dem WM-Triumph hatte das DFB-Team seine schlechteste EM-Qualifikation seit 32 Jahren gespielt. Nur fünf Siege in neun Spielen gab es 2015, dazu drei Niederlagen. Vergisst man das letzte Testspiel gegen Frankreich (0:2), weil es unter anderen Umständen stattfand, blieb der letzte Eindruck vom 2:1 gegen Georgien, als haufenweise Großchancen vergeben wurden.

Diese DFB-Spieler wurden aus dem Team gestrichen

Uli Stein, 1986

Der Hamburger Torhüter glaubt, er sei deutlich besser als Toni Schumacher, ist bei der WM in Mexiko aber nur die Nummer zwei. Er betitelt Teamchef Franz Beckenbauer als "Suppenkasper", muss vorzeitig abreisen und kehrt nicht mehr ins Team zurück.

Toni Schumacher, 1987

Ein Jahr später folgt Steins großer Rivale. Schumacher schreibt in seinem Buch "Anpfiff" über nächtlichen Zocker-Runden von Mitspielern und Doping-Praktiken im Fußball. Bei seinem Verein 1. FC Köln wie bei der Nationalelf fliegt er raus.

Stefan Effenberg, 1994

Nach der schwachen Leistung der DFB-Elf im WM-Vorrundenspiel gegen Südkorea pfeifen die Fans. Effenberg streckt ihnen den Mittelfinger entgegen, stellt die Geste später nochmal extra für die Kameras nach. Bundestrainer Berti Vogts und DFB-Präsident Egidius Braun schicken ihn vorzeitig aus den USA nach Hause. 1998 bewegt Vogts ihn zu einem missglückten Kurz-Comeback, als Nachfolger Rudi Völler das im Jahr 2000 ebenfalls versucht, will Effenberg nicht mehr.

Lothar Matthäus, 1996

Lothar Matthäus veröffentlicht via Bild-Zeitung "Tagebücher" mit Interna aus den Teams. Da er dabei vor allem Vogts' Lieblingsspieler Jürgen Klinsmann attackiert, gewinnt dieser den Machtkampf und Matthäus darf nicht zur EM 1996 - bei der Deutschland den Titel holt. Matthäus gibt später nochmal ein Comeback und beendet seine Nationalmannschafts-Karriere erst nach der missratenen EM 2000 im Alter von 39 Jahren.

Mario Basler, 1999

Nach einem schwachen Spiel gegen die Niederlande im November 1998 berücksichtigt Teamchef Erich Ribbeck Basler im nächsten Jahr zunächst nicht. Der fordert öffentlich ein Vier-Augen-Gespräch. Worauf Ribbeck nicht eingeht: "Ich lasse mich nicht erpressen. Ich entscheide, mit wem ich spreche, wann und wie lange ich mit ihm spreche." Basler kehrt nicht mehr zurück in die DFB-Elf.

Christian Wörns, 2006

Der Abwehrspieler träumt von der Teilnahme an der Heim-WM. Als Bundestrainer Klinsmann ihn mehrfach nicht berücksichtigt, wirft er diesem vor, "unehrlich und link" zu sein. Die Teilnahme am "Sommermärchen" hatte sich da endgültig erledigt.

Kevin Kuranyi, 2008

Beim WM-Qualifikationsspiel gegen Russland gehört Kuranyi zum Aufgebot, nicht aber zum Kader beim Spiel. Auf der Tribüne in Dortmund muss der Schalker Stürmer sich offenbar einige Sprüche anhören und fährt während des Spiels einfach nach Hause. Bundestrainer Joachim Löw nominiert ihn nie wieder.

Kevin Großkreutz, 2015

Die "Dönerwurf-Affäre" hat Löw dem Dortmunder verziehen. Sogar nachdem im WM-Trainingslager 2014 bekannt wurde, dass Großkreutz in eine Hotel-Lobby urinierte, nimmt der Bundestrainer ihn mit nach Brasilien. Dort bleibt Großkreutz ohne Einsatz, gerät sportlich aus dem Blickfeld. Und als Löw hört, dass Großkreutz bei Galatasaray Istanbul - wo er wegen eines Formfehler des Vereins nur trainieren und nicht spielen darf - an den Wochenenden stets nach Hause flog, mustert er ihn mit den öffentlichen Worten "Das macht man nicht" endgültig aus.

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Löw hatte dafür das Bild des Boxers gefunden, der zwar Treffer lande, aber den K. o. verpasse. Dabei trat seine Elf eher wie ein Boxer auf, der zwar geschmeidig um den Gegner tänzelt, aber das Zuschlagen vergisst. Die Direktheit zum Tor wiederzufinden wird eine wichtige Aufgabe.

Darüber hinaus hat Löw das Pro­blem, dass zwei bewährte Verteidiger, Jérôme Boateng und Benedikt Höwedes, seit Wochen verletzt fehlen. Deshalb hat er erstmals Ex-HSV-Profi Jonathan Tah aus Leverkusen in den 26-Mann-Kader berufen. „Wenn die Spieler ausfallen sollten, wovon ich im Moment nicht ausgehe, hat Jonathan in der Bundesliga gezeigt, dass er konstant gut spielen kann“, sagte Löw. Auf der Position des rechten Außenverteidigers ist Löw allerdings immer noch im Suchmodus: Den Liverpooler Emre Can hatte er dort ausprobiert – mit mäßigem Erfolg. Zuletzt versuchte er es mit Dortmunds Matthias Ginter. Alternativen wären Antonio Rüdiger und Sebastian Rudy. Oder Löw stellt auf eine Dreierkette um wie gegen Frankreich.

Baustelle Nummer drei ist die prominenteste: Schweinsteiger ist in Manchester immer noch nicht angekommen. Er sei eine „Metapher für den Untergang von United“, schrieb „The Independent“ neulich. Zuletzt fehlte er wochenlang verletzt. Löw aber setzt weiter auf den 31-Jährigen: „Natürlich muss er körperlich aufholen“, sagte er. Aber: „Bastian ist ein Leader, er geht voran.“ Und die Vergangenheit gibt ihm recht: Auch vor der WM war Schwein­steiger außer Form, um dann in den wichtigen Spielen präsent zu sein.

Zu guter Letzt muss sich Löw noch entscheiden, welche Torhüter er mit zur EM nimmt. Statt Ron-Robert Zieler hat er diesmal hinter Neuer Marc-An­dré ter Stegen, Bernd Leno und Kevin Trapp berufen. Wer als Nummer zwei und drei mit nach Frankreich fährt, hängt auch von der Teamhygiene ab. Wer stellt sich trotz seiner zu erwartenden Reservistenrolle voll in den Dienst der Mannschaft?

Für Joachim Löw hat am Dienstag der Endspurt auf die EM begonnen. Der Kampf um die Plätze sei nun ernsthaft eröffnet, sagte er. Damit der Weg in Frankreich ein längerer wird.