Hamburg. Oberliga-Schiedsrichter Benjamin Stello wollte schon aufhören. Im Interview erzählt er, was auf Hamburgs Fußballplätzen passieren kann.

Benjamin Stello, 38, ist seit 2010 Schiedsrichter in der Oberliga Hamburg. Als Lehrwart, Beobachter-Sachbearbeiter und stellvertretender Obmann engagiert er sich auch im Bezirksschiedsrichterausschuss Alster. Nach mehreren Attacken gegen seine Kollegen und ihn legte er die Pfeife für einige Wochen beiseite. Stello ist von Beruf Studienrat, unterrichtet Deutsch, Geschichte, Wirtschaft und Politik auf einem Hamburger Gymnasium.

Hamburger Abendblatt: Herr Stello, wie sind Sie Schiedsrichter geworden?

Benjamin Stello: Ich war Torwart und Kapitän meiner Studentenmannschaft in Leipzig. Zweite Kreisklasse Volkssportliga. In einem Spiel zog ich die Notbremse gegen einen Stürmer. Der Schiedsrichter gab Elfmeter und zeigte mir die Rote Karte. Völlig korrekt. Ich überredete ihn, die Entscheidung zurückzunehmen. Seine Autorität auf dem Spielfeld war danach völlig im Eimer. Wie er bedröppelt in der Kabine saß, tat er mir leid. Ich entschied: Jetzt werde ich Schiedsrichter und arbeite mein mieses Karma ab.

Sie waren damals 26. Nun, mit 38, dachten Sie wochenlang über ihr Karriereende nach. Warum?

Stello : Innerhalb von acht Tagen hatte ich drei Negativerlebnisse. Zunächst erzielte Pinneberg beim Oberligaspiel gegen Buxtehude in der 90. Minute den umstrittenen Siegtreffer. Ich wurde von diversen Buxtehuder Spielern und Offiziellen bepöbelt. Einer meiner Assistenten und der Schiedsrichter-Beobachter sahen, wie Buxtehudes Manager René Klawon hinter meinem Rücken verächtlich in meine Richtung ausspuckte. Auf einer Internetplattform stand in Anspielung auf die Elfmeterentscheidung beim Bundesligaspiel Köln gegen HSV, ich sei der Deniz Aytekin der Oberliga. Die Bilder von Elbkick-TV entlasteten mich ein paar Tage später. Der Treffer war regulär. Dann erschien nach dem Pokalspiel Wedel gegen Osdorf auf einer anderen Internetplattform ein einseitiger Spielbericht über meine angeblich schlechte Leistung. Schließlich verteilte ich bei der Landesligapartie Elazigspor gegen Schwarzenbek fünf Platzverweise für Elazigspor. Während des Spiels wurde ich rassistisch und sexistisch diskriminiert. Vor den Kabinen verhinderte Elazigspors Präsident Burhan Celik, dass Manager Alexander Kaya mich körperlich attackierte.

Wie haben Sie auf die Angriffe reagiert?

Stello : Das alles war Stress pur. Es waren Momente, in denen alle Deeskalationsversuche nichts mehr nutzten. Da war ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit in mir aufgrund des plötzlichen Kontrollverlustes. Nicht über das Fußballspiel selbst, sondern das ganze Drumherum.

Haben Sie nicht auch schon einmal gedacht: Gleich muss ich mich mit den Fäusten verteidigen?

Stello : Ich würde mich so nicht wehren. Das ist Typsache. Ich bin Kriegsdienstverweigerer, glaube nicht, dass Gewalt Probleme löst. Ich würde mich schützen, aber nicht zurückschlagen. Polizei rufen, Anzeige erstatten, auf den Rechtsstaat vertrauen – das wäre mein Weg gewesen, wäre es zu körperlichen Angriffen gekommen.

Dann sagten Sie: Ich brauche eine Pause.

Stello : Ja. Ich grübelte die ganze Nacht. Einfach so zur Tagesordnung übergehen war nicht drin. Ein Stürmer, der vor dem Tor ständig an private Probleme denkt, trifft den Kasten nicht. Ein Schiedsrichter, der den Kopf nicht frei hat, pfeift nicht gut. Ich hätte den Spielen nicht gerecht werden können und entschied mich für vier Wochen Pause. In dieser Zeit fanden die Verhandlungen zu den Geschehnissen statt. Elazigspor verhielt sich immerhin vorbildlich, recherchierte, benannte die Täter, nahm seine Schuld an. Das war gut. Wir können uns wieder in die Augen sehen.

Sie sind Pädagoge, haben einen Lehrauftrag an der Universität. Welchen Einfluss hatten die Ereignisse auf Ihr berufliches Leben?

Stello : Als Oberliga-Schiedsrichter bin ich Teil der Berichterstattung der lokalen Hamburger Medien. Das ist auch okay. Nur hinterlassen einseitige Artikel, gerade im Internet, oder Verunglimpfungen auf Plattformen eben eine Wirkung bei Schülern. Ich wurde öfter angesprochen. Auf Facebook schrieb jemand am Abend des Elazigspor-Spiels, ich sei dafür bekannt, ausländische Mannschaften zu verpfeifen. Das ist absurd. Als wir im Geschichtsunterricht auf das „Dritte Reich“ und die massiven, von Nationalsozialisten ausgehenden Diskriminierungen gegenüber Ausländern zu sprechen kamen, meinte ein Schüler plötzlich: „Im Internet steht, dass Sie es damit auch nicht so genau nehmen.“ Er meinte es halb scherzhaft. Dennoch: Das war eine der äußerst unangenehmen Situationen für mich. Das schadet auch meiner Glaubwürdigkeit als Vorbild für die Schülerinnen und Schüler.

Zuletzt wurden viele Schiedsrichter Opfer von verbalen und körperlichen Übergriffen. Hat das für Sie als Pädagoge auch eine gesellschaftliche Dimension?

Stello : Das hat viele Facetten. In meiner Wahrnehmung wächst in unserer Gesellschaft seit Jahren in vielen Bereichen die Tendenz zur Fremdattribution. Mit anderen Worten: Nicht ich habe es verbockt, die anderen sind schuld. Habe ich vielleicht irgendwo mal nicht recht, nehme ich mir trotzdem einen Anwalt. Der klagt das durch. Ist die Note schlecht, müssen die Eltern ran. Die sollen mal mit dem Lehrer reden. Das überträgt sich auf den Fußballplatz. Viele denken: Das war natürlich kein Foul von mir, der blöde Schiedsrichter macht alles falsch. Selbstattribution ist viel schwieriger. Sich fragen: Was habe ich falsch gemacht? Und: Wie kann ich mich verbessern? Da ist bei vielen Menschen die Frustrationstoleranz nicht gerade ausgeprägt.

Woran liegt das?

Stello : Ein Stück weit ist es dieser Perfektionismusdrang. Mein Lieblingsbeispiel: „Germanys Next Topmodel“. Alle Kandidatinnen sind wunderschön, keine hat einen Makel. Alle haben sich lieb, obwohl sie Konkurrentinnen sind. Das ist Quatsch. Trotzdem hat dieses Format Einfluss. Manche Schüler glauben, sie seien schlechte Menschen, wenn sie ihr Abitur nicht schaffen. Es ist natürlich schön, das Abitur zu bestehen, trotzdem hängt davon nicht der Wert eines Menschen ab. Was unsere Gesellschaft dringend braucht, ist eine Fehlerkultur. Zum Leben gehören Rückschläge. Wichtig ist, wie man damit umgeht. Als Beobachter auf dem Sportplatz nehme ich Fans wahr, die junge Schiedsrichter bei einem Kreisligaspiel gnadenlos kritisieren. Aber wenn nicht mal mehr in der Kreisliga gelernt werden darf, wo denn bitteschön dann?

Ist die zunehmende Gewalt gegen Schiedsrichter ein Ausländer- oder Schichtenproblem?

Stello : Das ist mir beides viel zu vereinfachend. Es gibt ausländische und deutsche Mannschaften mit Gewaltpotenzial ebenso wie deutsche und ausländische Teams, bei denen nie was passiert. Natürlich ist es einfacher, sich zu beherrschen, wenn man gut reflektieren kann, Strategien für Frustrationen parat hat. Aber das heißt nicht, dass elf guterzogene Vorstadtjungs auf dem Fußballplatz immer besonnen reagieren. Das ist nicht die Realität. Es liegt nicht an einem Strukturmerkmal, sei es die Nationalität, der Bildungsgrad oder sonst was. Ich vertrete einen multiperspektivischen Ansatz.

Geht der Respekt vor Autoritäten zurück?

Stello : Das ist wohl so. Das finde ich übrigens gut, wenn wir unter Autoritäten unumstrittene Führungspersönlichkeiten verstehen. Wir wollen doch demokratische, freiheitliche Staatsbürger, die ihre Meinung sagen und eigenverantwortlich handeln. Dazu gehört, dass sich jeder reflektiert und hinterfragt. Ein Trainer, der bei jeder Anweisung sagt „Mach das oder hau ab!“ passt doch auch nicht mehr in die Zeit. Freiheit ist wertvoll. Aber es muss Grenzen geben. Beim Fußball: Ich diskutiere eine gewisse Zeit mit Spielern und Trainern, auch gerne hinterher. Aber es muss im sportlichen Rahmen bleiben und klar sein: Letztlich entscheide ich.

Und das ist nicht mehr klar? Der Schiedsrichter dient zu oft nur noch als Blitzableiter?

Stello : Oftmals leider ja. Man muss sich nur den Fall des Schwarzenbeker Schiedsrichters Mike Franke ansehen, der auf dem Platz verprügelt wurde. Das ist ja noch viel krasser als bei mir. Er trug körperliche Schäden davon, musste ins Krankenhaus. Oder Angriffe auf Schiedsrichter bei Jugendspielen. Dieses Gefühl „Das kann doch alles nicht wahr sein“ ist bei vielen Kollegen zurzeit stark existent. Manche Freunde sagen mir: „Lass Dich nicht bedrohen für das bisschen Geld. Hör auf.“ Ich sage dann: Ich liebe doch den Fußball. Die Bewegung, die Emotionen, den menschlichen Kontakt. Ich habe das jetzt auch alles sehr vermisst.

Und morgen geht es weiter…

Stello : Ja, nach vier Wochen Pause. Landesliga. Lohbrügge gegen Hamm United. Ich erfuhr so viel Solidarität von Kollegen. Anrufe, SMS, die Unterstützung bei der Verhandlung. Das tat unglaublich gut in der Phase der Selbstzweifel. Ich will mir meine Liebe zum Fußball nicht kaputt machen lassen.

Was kann getan werden, um Sie und Ihre Kollegen künftig besser zu schützen?

Stello : Es sollte endlich die Sperre nach der fünften Gelben und Gelb-Roten Karte eingeführt werden. Außerdem wären mehr Regelschulungen der Trainer mit den Spielern sehr hilfreich. Und der Perspektivwechsel ist ein wichtiger Baustein: Viel mehr Spieler und Trainer sollten selber pfeifen. St. Paulis Ex-Profi Nico Patschinski hat neulich als Trainer seines FC Schnelsen die Begegnung gegen Nikola Tesla II in der Kreisklasse 6 geleitet. Es kam zu Gewaltszenen. Ich gönne ihm diese Erfahrung nicht, aber ich bin mir sicher: Er denkt nun anders über den Job des Schiedsrichters.