Hamburg. Wenn Artem Harutyunyan heute in Wilhelmsburg um den WM-Titel boxt, sitzen auch 500 Flüchtlinge am Ring.

Boxer sind immer auch Entertainer. Sie wollen gewinnen, weil sie nach Titeln streben, nach dem Ruhm und dem Glücksgefühl, das ein Sieg auslösen kann. Aber sie wollen auch ihr Publikum unterhalten, im besten Fall wollen sie dazu beitragen, dass die Menschen, die ihnen zuschauen, die Welt um sich herum vergessen, weil sie gefesselt sind von dem Moment, den sie miterleben dürfen.

Für Artem Harutyunyan ist diese Aussicht ein großer Antrieb an diesem Dienstagabend. In der Inselparkhalle in Wilhelmsburg kämpft der 25 Jahre alte Hamburger um den Weltmeistertitel der Profiserie APB des olympischen Weltverbands Aiba im Halbweltergewicht (Klasse bis 64 Kilogramm). Im Publikum werden neben Aiba-Präsident Ching-kuo Wu aus China, der als Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) einen Überblick über Hamburgs Bewerbung um die Amateurbox-WM 2017 und die Olympiabewerbung für 2024 gewinnen will und am Montag von Sportsenator Michael Neumann im Rathaus empfangen wurde, rund 500 Flüchtlinge sitzen, die der gebürtige Armenier eingeladen hat.

Er hofft, den leidgeprüften Menschen mit dem Boxabend ein Stück Entspannung schenken zu können. „Es ist wichtig, dass Flüchtlinge Ablenkung haben. Sport verbindet über alle Grenzen hinweg, und vielleicht bin ich mit meiner Lebensgeschichte auch für einige eine Inspiration“, sagt er. Zwar war er, als die Eltern mit ihm und Bruder Robert, 26, aus Armenien nach Deutschland flohen, erst ein Jahr alt. Die Erinnerungen an die harte Anfangszeit sind stark verblasst, zumal die Familie nur kurz in einem Flüchtlingsheim lebte. Die Eltern integrierten sich schnell, weil sie zielstrebig und ehrgeizig daran arbeiteten, unabhängig zu werden von staatlichen Leistungen. Sie wollten ankommen in der neuen Heimat, was ihnen gut gelang.

Dennoch, sagt Artem Harutyunyan, werde er niemals vergessen, woher er komme. Mit Robert, der als Amateur im Leichtgewicht kämpft, hat er schon oft wohltätige Zwecke unterstützt. Sie haben Geld gesammelt für das Kinderhospiz Sternenbrücke und andere Hilfsorganisationen. „Wir versuchen, Vorbilder zu sein und etwas von dem zurückzugeben, was wir in Deutschland bekommen haben“, sagt er.

Ein Boxer, der sich erlauben kann, einen Weltmeisterschaftskampf nicht als Höhepunkt der Saison zu bezeichnen, muss entweder überheblich sein – oder ein ganz besonderes Jahr erleben. Artem Harutyunyan ist für seine Bodenständigkeit bekannt, dennoch ist es keine Überraschung, dass es ihn etwas gibt, das er höher bewertet als die WM-Chance, die er gegen den russischen Titelverteidiger Armen Zakarjan erhält.

Nicht einmal zwei Monate ist es her, dass sich der 25-Jährige, der zwar am Olympiastützpunkt Schwerin beim früheren Universum-Chefcoach Michael Timm trainiert, aber für seinen Heimatverein TH Eilbeck startet, in Wilhelmsburg für die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro qualifizierte. „Der Druck, das schaffen zu wollen und zu müssen, war größer, es war mein wichtigstes Ziel in diesem Jahr. Deshalb sehe ich die WM zwar auch als sehr wichtig an, aber sie wäre so etwas wie eine Zugabe“, sagt er.

Der Olympiasieg ist das, wovon alle Boxer, die unter dem Banner der Aiba kämpfen, träumen. Dass die Aiba mit der APB-Serie eine eigene Profischiene gelegt hat, sehen die alteingesessenen Promoter und Weltverbände des Berufsboxens zwar nicht gern. Für Harutyunyan hätte der WM-Titel aber große Bedeutung, wäre er doch nach Superschwergewichtler Erik Pfeifer (Lohne), der in der Inselparkhalle seinen Titel gegen den Rumänen Mihai Nistor verteidigt, erst der zweite deutsche APB-Champion. „Das wäre ein weiterer Traum, der in Erfüllung geht“, sagt der Herausforderer.

Um Zakarjan zu besiegen, muss er aus alten Fehlern lernen. Zweimal schon unterlag er dem Russen knapp nach Punkten, allerdings fanden beide Kämpfe in dessen Heimat Nowosibirsk statt. „Ich muss klarer und aggressiver boxen, ihn zu Fehlern zwingen. Es ist für uns beide das erste Mal, dass wir über zwölf Runden boxen. Die Unterstützung meiner Fans wird mich antreiben“, sagt Harutyunyan, der besonders auf die 500 Flüchtlinge setzt. Mit einigen von ihnen trainierte er vor ein paar Wochen in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Groß Borstel.

Die wichtigste Botschaft, die er an die vielen Hilfesuchenden in Deutschland – und nicht nur an die, die ihm an diesem Dienstag zusehen werden – aussenden will, ist die: „Wer hart arbeitet und bereit ist, alles für seinen Traum zu geben, der bekommt in Deutschland seine Chance.“ Bessere Beispiele als die Harutyunyan-Brüder kann es für diese These kaum geben.

Für den Kampfabend (Einlass 19 Uhr, Beginn 20 Uhr) gibt es noch 400 Karten zum Preis von zehn Euro bei eventim.de oder an der Abendkasse.