Die Schweizer Skination bejubelt die überraschenden WM-Abfahrtsmedaillen von Patrick Küng und Beat Feuz
Vail. Mit den Abfahrtsrennen bei Großereignissen des alpinen Skisports ist es wie mit einer Schachtel gemischter Pralinen: Wer hineingreift, weiß nie, was er bekommt – und den Geschmack aller trifft das Ergebnis selten. Vielleicht ist das aber auch gut so. Denn wer wollte schon immer einen Usain Bolt auf zwei Latten beklatschen müssen, wenn es um WM oder Olympia geht?
Das mit Spanung erwartete Speedrennen der Männer am Sonnabend bei den Weltmeisterschaften in Beaver Creek ist da keine Ausnahme. Wer hätte vorher schon auf den Schweizer Patrick Küng als Sieger getippt? Wer auf den Amerikaner Travis Ganong als Zweitplatzierten (+0,24 Sekunden) und Küngs über Jahre von Knieverletzungen gebeutelten Landsmann Beat Feuz (+0,31) als Bronzemedaillengewinner?
„Ich glaub, ich träume“, postete Küng, 31, noch während des Rennens auf Facebook. Nicht dass er nicht schon mal eine Abfahrt im Weltcup gewonnen hätte. Für 2014 steht ein Sieg in Wengen zu Buche. Aber dass der Mann mit Startnummer 19 alle Favoriten schlagen würde, das hatte dann kaum jemand erwartet. Nicht einmal Küng selbst. Zumal er ja eigens noch eine Qualifikation für die WM hatte fahren müssen.
„Die Abfahrt ist die Königsdisziplin. Wenn man in der Schweiz Ski fährt, dann hat man einen großen Druck“, sagte er nach dem Rennen seines Lebens. Umso ausgelassener feiern die Eidgenossen dann aber auch, wenn ihre besten Abfahrer wie in diesem Winter erfolgreich sind.
„Da man weiß, wie skifanatisch die Schweizer sind – gönnen wir es ihnen diesmal“, sagte augenzwinkernd der diesjährige Wengen-Sieger Hannes Reichelt aus Österreich, der am Abend zum Gratulieren im „House of Switzerland“ in Vail vorbeischaute.
Auf Platz 13 war Reichelt einer der abgeschlagenen Favoriten, zu denen auch der Führende in der Weltcupwertung, Kjetil Jansrud (15.), und die Österreicher Matthias Mayer (12.) und Max Franz (19.) sowie – obwohl just erst von einem Achillessehnenriss genesen – der norwegische Titelverteidiger Aksel Lund Svindal (6.) zählten. Die deutschen Speedfahrer spielten hingegen wieder nur eine Nebenrolle. Wie im Super-G schafften es Andreas Sander (17.), Josef Ferstl (22.) und Klaus Brandner (27.) auch in der Abfahrt allesamt nicht wie erhofft in die Top 15.
Die Renaissance der Schweizer Abfahrer, die 2010 den Überraschungs-Olympiasieger Didier Défago stellten, ist auch einem Mann zu verdanken, der bis vergangenes Jahr noch beim Deutschen Skiverband angestellt war: Frauen-Cheftrainer Thomas Stauffer wechselte 2014 in sein Heimatland zurück zu Swiss Ski und übernahm als verantwortlicher Trainer die Männer-Truppe um Feuz, Küng und Co.
Offensichtlich eine gute Entscheidung. „Tom hat sehr viel Ruhe in das gesamte Gebilde gebracht“, lobte Küng den besonnenen Chefcoach. Er selbst avancierte zum ersten Schweizer Abfahrts-Weltmeister seit Bruno Kernen 1997. Grinsend kommentierte Küng: „Die Schweiz ist ja eine Skination. Deshalb ist es höchste Zeit, dass dieser Titel wieder uns gehört.“
In Österreich sehen sie das naturgemäß anders. Bevor Matthias Mayer 2014 überraschend Olympiasieger in der Abfahrt wurde, haderte die stolze Alpenrepublik stets mit dem Ausgang des populärsten Rennens bei WMs und Winterspielen. 2013 in Schladming und 2007 in Are gewann Svindal WM-Gold, 2011 und 2009 unerwartet die Kanadier Erik Guay und John Kucera. Die Olympiasiege 2010 und 2006 gingen ebenso an Außenseiter. Ein besonders erwähnenswertes Stück Sportreportergeschichte schrieben dabei die Kommentatoren des Österreichischen Rundfunks 2006 bei den Spielen in Turin. Der Österreicher Michael Walchhofer schien der sichere Abfahrts-Olympiasieger zu sein, als mit der Startnummer 30 der Franzose Antoine Dénériaz (mit gerissenem Innenband) auf die Piste ging – und plötzlich eine Zwischenbestzeit nach der anderen aufblinkte.
„Der hoat des g’schickt g’macht“, ächzte Robert Seeger ins Mikrofon, und Co-Kommentator Armin Assinger schrie: „Ganslhaut-Alarm, Ganslhaut-Alarm. Der ist schnell, bist du deppat! Vier Zehntel vorn. Ja, spinnt denn der?! Foahrt der da oben wie die g’sengte Sau.“ Und dann rauschte der französische Außenseiter tatsächlich mit Bestzeit ins Ziel und entriss Walchhofer das sicher geglaubte Gold. Seegers Fazit: „Das, Armin, was wir gesagt haben: Einem kommt einmal ein Lauf aus. Und das war der des Antoine Dénériaz.“
Und manchmal, das lehrt die Erfahrung, wiederholt sich Geschichte.
Bei der Kombinations-Abfahrt am Sonntag stürzte der Tscheche Ondrej Bank schwer und zog sich eine Gehirnerschütterung zu. Der 34-Jährige hatte kurz vor dem Zielsprung seinen Ski verloren. Aus dem Krankenhaus in Vail postete er später ein Foto von sich, das ihn mit Schrammen im Gesicht und einem blauen Auge zeigte. Dazu schrieb er: „Uff!“ Der Wettbewerb war bei Redaktionsschluss nicht beendet.