Aus der Traum: Nach dem Debakel beim Auftakt der Vierschanzentournee bleibt für das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen nur das Prinzip Hoffnung. Die Springer selbst glauben an die Wende.

Oberstdorf. Bundestrainer Werner Schuster suchte nach Worten für das eigentlich Unerklärbare. Es war schon spät an diesem frustrierenden Abend für die deutschen Skispringer. Der Auftaktwettbewerb der Vierschanzentournee war längst vorbei, und viele deutsche Zuschauer ernüchtert die Schattenbergschanze hinabgestiegen.

Nur der ein oder andere österreichische Fan zog noch Fahne schwenkend und jubelnd durch Oberstdorf. „Wir hatten noch nie mit einer derart hohen Qualität so ein schlechtes Springen. Das ist schon erstaunlich“, sagte Schuster fassungslos.

Es ist Vierschanzentournee, und das Gesetz der vergangenen Jahre trat mal wieder in Kraft: Die Österreicher können Tournee, die Deutschen nicht. Sie springen schlechter als zuvor im Weltcup, scheitern an ihren eigenen Erwartungen und denen der Zuschauer. Der Traum vom Gesamtsieg ist bereits nach dem Auftaktspringen ausgeträumt. Das ist nicht nur ein Desaster für das Team, sondern genauso fatal für die Stimmungslage der deutschen Zuschauer. Schuster verspricht Wiedergutmachung – es ist die einzige Chance, die ihnen bleibt. Jetzt bloß kein Tournee-Trauma. „Im Unterschied zum letzten Jahr ist unsere Qualität höher. Und wir werden alles daransetzen, das zu zeigen“, sagt Schuster.

Das sind die Fakten: Severin Freund landete auf Platz 13, Richard Freitag auf 15 und Marinus Kraus auf 18. Kein Deutscher schaffte es unter die Top Ten, die wiederum von den Österreichern Stefan Kraft (erster Weltcupsieg seiner Karriere) und Michael Hayböck (jetzt Führender im Gesamtweltcup) angeführt werden. Der eine Österreicher wuchs über sich hinaus, der andere bestätigte seine bisherige Saisonleistung. Die deutschen Topspringer bestätigten nur, dass sie mit der Vierschanzentournee ein Problem haben – Kraus ausdrücklich ausgenommen, da er am Vortag noch schwer gestürzt war.

Kein Schönreden, keine Ausflüchte

Sechsmal in Folge gewann zuletzt ein Österreicher die Tournee – und es könnte wieder so kommen. Die Deutschen jedenfalls werden sie nicht daran hindern können. Das müssten andere machen. „Die Österreicher haben bei der Tournee dieses Selbstverständnis“, versucht Schuster eine Erklärung. „Dieses Selbstverständnis haben wir versucht, über die Jahre aufzubauen. Das ist uns bis hin zur Olympiamedaille gelungen – hier noch nicht.“

Nach Olympiagold im Team bei den Winterspielen in Sotschi und dem WM-Titel im Skifliegen durch Severin Freund waren die Hoffnungen groß, dass es jetzt auch bei der Tournee endlich einmal klappen könnte. Diese Traditionsveranstaltung zwischen den Jahren bietet die perfekte Chance, eine Euphoriewelle zu entfachen und den Schwung des Olympiagoldes weiterzutragen. Doch mit dem Ergebnis aus Oberstdorf, ganz nach dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“, wird die aufkommende Begeisterung schon jetzt jäh gestoppt.

Das einzig Positive: So klar und deutlich wie die Deutschen, allen voran Severin Freund und Schuster, vor dem Tourneestart ihre Ziele geäußert hatten, so schonungslos gestehen sie die erneute große Enttäuschung ein. Kein Schönreden, keine Ausflüchte, keine hanebüchenen Erklärungsversuche wie sie so oft im Sport zu hören sind. Schuster sagt: „Dass unsere Spitzenleute so danebenhauen, ist eine Katastrophe, sportlich gesehen weit unter unseren Möglichkeiten und sehr, sehr enttäuschend.“ Und er legte nach: „Wenn mir im Hotel einer gesagt hätte, dass Marinus Kraus nach dem ersten Durchgang der beste Deutsche ist, hätte ich gesagt: Dann bleibe ich im Hotel.“

Severin Freund ging genauso hart und ehrlich mit sich selbst ins Gericht, suchte die Schuld nicht bei äußeren Bedingungen und sagte schließlich frustriert: „Das waren zwei schlechte Sprünge. Wir schauen wahnsinnig dämlich aus bei der Tournee – und das schon seit ein paar Jahren.“

Aber warum nur? Die Schanze in Oberstdorf kennen sie wie keine zweite, Freund hat dort zig Trainingssprünge absolviert. Die Schanze liegt ihm, er mag sie. Nach den bisherigen Saisonleistungen war seine Zielsetzung, endlich einmal um den Gesamtsieg mitzukämpfen, auch keineswegs zu hoch. Und Schuster sagt über seine Topspringer. „Sie wollten es offensiv angehen.“ Allerdings: „Sie haben beide eine Ohrfeige bekommen.“

Gelassenheit und nötige Balance – Fehlanzeige

Im Training und Probedurchgang lief es auch noch gut, besonders für Freund. Doch dann kam der Wettkampf. Da gibt es eigentlich nur eine Erklärung: zu viel gewollt. Der Kopf entscheidet und lenkt den Körper. Schuster sagt das so: „Man muss ehrlich sein: Freund und Freitag sind schon ein paar Mal hierhergekommen, haben sich viel vorgenommen. In den Jungs baut sich natürlich auch eine enorme Erwartungshaltung auf.“

Und das führte dazu, dass sich bei Freund ein Fehler einschlich, den Schuster bei ihm schon ewig nicht mehr gesehen hatte: Er sprang zu früh ab, weil er es ganz besonders gut machen wollte – das hilft beim Skispringen aber meistens wenig. „Dann kam er nicht mehr in eine Flugposition, in der er gleiten kann“, sagt Schuster. Bei Richard Freitag war der Fehler im Sprung ein anderer. „Er ist dann so angespannt von Kopf bis Fuß, dass er eher zu früh abspringt“, erklärt der Bundestrainer.

Den beiden deutschen Topspringern fehlte ganz offensichtlich die nötige Gelassenheit – das sieht auch Schuster so: „Ihnen fehlte die innere Balance und das tiefe Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.“

Aber was jetzt? Ein Tag bleibt ihnen zur Entspannung, zum Abschalten und um den Schalter im Kopf umzulegen. Direkt nach dem Wettkampf ging es schon weiter nach Garmisch-Partenkirchen, wo am Mittwoch die Qualifikation und am Donnerstag das Neujahrsspringen ansteht (jeweils 14 Uhr, ARD live). Die Erwartungshaltung ist deutlich gesunken – der Kampfgeist der Deutschen allerdings geweckt. Mit einer „Jetzt-erst-recht-Haltung“ soll es klappen – ohne dabei zu verkrampfen. „Wir können es besser“, sagt Severin Freund und Schuster ergänzt: „Ich will nicht glauben, dass wir bis Bischofshofen kein Erfolgserlebnis mehr haben. Das lassen wir nicht auf uns sitzen.“

Jetzt kommt also Garmisch-Partenkirchen. Zu allem Überfluss gehört die Olympiaschanze jedoch nicht gerade zu den liebsten Anlagen von Severin Freund. Allerdings: Er hat sich verstärkt auf diese Herausforderung vorbereitet und will sich auf keinen Fall unterkriegen lassen. „Wir dürfen jetzt nicht heulen“, sagt er.