Deutschlands großes Tennistalent Alexander Zverev spricht über sein verrücktes erstes Jahr auf der ATP-Tour und das Ziel, am Rothenbaum zu siegen

Hamburg. Kaum ein Wölkchen am Himmel, die Sonne wärmt bei 22 Grad – es lässt sich aushalten im Dezember in Wesley Chapel im US-Bundesstaat Florida. Mischa und Alexander Zverev genießen das Wetter, ausnutzen können sie es trotzdem kaum, denn die beiden Hamburger Tennisbrüder sind nicht zum Urlaubmachen in den USA. In der Kleinstadt nördlich von Tampa besitzen die Zverevs (die Eltern Irina und Alexander senior trainieren ihre Söhne) seit 2009 ein Haus. Dort bereiten sie sich auf die Saison 2015 vor.

In den vergangenen fünf Wochen war Jez Green der wichtigste Mann in ihrem Team. Er ist der Athletikcoach, der auch Wimbledon- und Olympiasieger Andy Murray fit machte, und unter seiner Anleitung trainieren Mischa, 27, und Alexander, 17, an sechs Tagen in der Woche zweimal täglich. Während der Weg für beide der gleiche ist, sind ihre Ziele unterschiedlich. Während der Jüngere vor allem Muskeln aufbauen und seine Athletik weiter an das Herrentennis heranführen muss, heißt es für den auf Weltranglistenposition 726 abgestürzten Mischa, nach einer im April erlittenen Handgelenksverletzung wieder den Anschluss an die Weltelite herzustellen, zu der er 2009 als 45. der Rangliste zählte.

Alexander, den alle nur Sascha nennen, wird nach einem beeindruckenden Jahr 2014 an Position 137 der Welt geführt, Experten sehen in ihm Deutschlands größte Nachwuchshoffnung und vielleicht den am höchsten veranlagten Spieler seit der Ära Boris Beckers und Michael Stichs. Um ihn vor äußeren Einflüssen zu schützen und ihm die volle Konzentration auf sein sportliches Fortkommen zu ermöglichen, wird der 198 cm lange Schlacks systematisch von den Medien abgeschirmt. Für das Abendblatt machten sein Management und er jedoch eine Ausnahme.

Hamburger Abendblatt:

Sascha, das Jahr 2014 war für Sie mit dem Gewinn der Juniorenkonkurrenz bei den Australian Open und dem Halbfinaleinzug am Hamburger Rothenbaum ein unglaublich erfolgreiches. Haben Sie sich irgendwann einmal die Zeit genommen, um das Geschehene zu verarbeiten?

Alexander Zverev:

Während man Turniere spielt, ist dazu leider keine Zeit. Aber ich habe, als die Saison vorbei war, schon darüber nachgedacht, was alles passiert ist, und ich denke, dass ich sagen kann, dass 2014 eigentlich ganz schön war. Es hat mich auf jeden Fall gefreut, dass ich so weit gekommen bin.

Ganz schön? Das scheint doch sehr untertrieben. Was war für Sie der Höhepunkt des Jahres? Hamburg – oder doch etwas, von dem niemand etwas ahnt?

Zverev:

Hamburg war schon das Highlight. Das ist schließlich mein Heimturnier, und dort ins Halbfinale zu kommen, das war immer mein Traum. Dass ich ihn realisiert habe, konnte ich zunächst wirklich gar nicht fassen. Das hat mir unheimlich viel bedeutet. Dennoch vergesse ich auch nicht, wo alles begonnen hat, nämlich Anfang Juli beim Challengerturnier in Braunschweig. Der Turniersieg dort war der Beginn der verrücktesten drei Wochen meiner bisherigen Karriere.

In Braunschweig haben Sie Ihren ersten Titel im Herrenbereich gewonnen. Was hat das in Ihnen ausgelöst?

Zverev:

Ich denke, dass Braunschweig der Moment war, in dem ich spürte, dass ich mithalten kann bei den Profis. Sehen Sie, ich hatte im Januar die Australian Open der Junioren gewonnen und bin dann auf die ATP-Tour gewechselt. Plötzlich musste ich, der es gewohnt war, fast immer zu gewinnen und meist bis zum Ende im Turnier zu sein, in der Qualifikation antreten. Ich habe viele Erstrundenmatches verloren, mir fehlten Spielpraxis und Selbstvertrauen. In Braunschweig habe ich mir beides geholt, und das war für mich der Wendepunkt.

Sie haben dann in Stuttgart gegen den späteren Finalisten Lukas Rosol verloren, beide Sätze im Tiebreak, und dann kam Hamburg. Wie oft haben Sie sich am Rothenbaum auf dem Weg ins Halbfinale selber überrascht?

Zverev:

Also, während der Woche habe ich nicht wirklich glauben können, was ich geschafft habe. Aber rückblickend war der Halbfinaleinzug der Lohn für meine harte Arbeit. Ich habe gespürt, dass ich mental und physisch fit genug war, um über mehrere Wochen meine Leistung zu bringen. Das hat mir sehr gutgetan, war ein riesiger Schritt. Ich muss aber auch betonen, dass ich Michael Stich viel verdanke. Er hat mir als Turnierdirektor in Braunschweig und Hamburg Wildcards fürs Hauptfeld ermöglicht. Es ist für einen jungen Spieler wie mich unbezahlbar, wenn einem ein solcher Mensch wie Michael den Rücken stärkt. Ich bin ihm sehr dankbar für diese Hilfe und hätte mich gefreut, wenn er Präsident des Deutschen Tennis-Bundes geworden wäre.

Wie lange haben Sie gebraucht, um nach Hamburg wieder in den Alltag zurückzufinden, ohne abzuheben?

Zverev:

Vor dem Abheben bewahrt mich grundsätzlich meine Familie, außerdem weiß ich selber, dass ich noch nichts erreicht habe. Dennoch war es hart, nach dem Rothenbaum-Erfolg wieder in den Rhythmus zu finden. Das hat sicherlich rund sechs Wochen gedauert. Es ist nicht einfach, wenn man nach einer Halbfinalteilnahme bei einem 500er-Turnier plötzlich bei einem 250er wieder Quali spielen muss und dort in der ersten Runde verliert, und dann sieht man im Hauptfeld Leute spielen, die man schon geschlagen hat. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Aber mein Trost ist, dass es auch den größten Stars manchmal so geht. Ein Rafael Nadal gewinnt die French Open und fliegt dann in Halle in Runde eins gegen Dustin Brown raus. So etwas passiert. Ich muss das alles erst lernen. Niemand sollte vergessen, dass ich erst 17 bin.

Sie haben ja schon häufig erklärt, dass Ihnen Dinge wie Partys oder Discos nichts bedeuten. Hat man als 17-Jähriger, der nur fürs Tennis lebt, nicht aber doch bisweilen das Gefühl, etwas zu verpassen?

Zverev:

Ich habe dieses Gefühl nicht. Mir gefällt mein Leben genauso, wie ich es lebe. Ich wollte immer Tennisprofi sein, jetzt bin ich es. Dennoch ist mir bewusst, dass ich erst am Anfang stehe und hart arbeiten muss, um den nächsten Schritt zu machen.

Welcher war in diesem Jahr der wichtigste Schritt?

Zverev:

Dass ich mir zutraue, auch in Matches gegen besser platzierte Spieler mein Spiel zu spielen. Anfang des Jahres habe ich mal in München ein Match gegen Jürgen Melzer klar verloren. Danach ist mir schlagartig klar geworden, dass ich nicht daran geglaubt hatte, ihn wirklich schlagen zu können. Den Glauben, dass ich es grundsätzlich kann, habe ich seit dem Turniersieg in Braunschweig.

Was muss für 2015 besser werden?

Zverev:

Es gibt nichts, was ich nicht verbessern könnte. Aber das Wichtigste ist sicherlich, dass ich mich körperlich in den Zustand bringe, über Wochen physisch und mental an meine Grenzen gehen zu können. Daran arbeite ich hier in Florida ganz besonders. Dass ich spielerisch mithalten kann, weiß ich. Aber wenn der Körper nicht Schritt halten kann, nutzt das nichts.

Setzen Sie sich ein besonderes Ziel? Die Top 50 zu knacken beispielsweise?

Zverev:

Das Jahr 2014 hat mich gelehrt, dass man nicht allzu weit in die Zukunft planen sollte, weil so vieles passieren kann, was man nicht auf der Rechnung hat. Hätte ich vor einem Jahr jemals ahnen können, dass ich in Hamburg das Halbfinale erreichen würde? Natürlich nicht, und trotzdem war es immer auch ein Ziel für mich. Deshalb habe ich mir für 2015 auch kein besonderes Ziel gesetzt, ich will zunächst in der Vorbereitung alles geben und dann topfit im Januar in Brisbane und bei den Australian Open in der Qualifikation antreten. Alles Weitere sehen wir dann. Aber es gibt zwei Wünsche, die ich für 2015 habe.

Verraten Sie sie uns?

Zverev:

Ich freue mich riesig auf mein erstes Fünfsatzmatch bei den Profis, denn ich bin sehr gespannt darauf, was für eine Belastung das körperlich und mental darstellt. Und ich möchte in Hamburg den Erfolg aus diesem Jahr möglichst wiederholen, denn das ist das Turnier, das mir am meisten am Herzen liegt. Irgendwann hoffe ich, es auch gewinnen zu können.

Und wann schlagen Sie Ihren Bruder erstmals in einem offiziellen Match?

Zverev:

Ich hoffe, dass das sehr bald passiert. Aber nicht nur, weil ich unbedingt gegen ihn gewinnen will, sondern weil das bedeuten würde, dass er bald wieder fit ist. Mischa hatte wirklich viel Pech in den vergangenen Jahren, er war sehr viel verletzt. Aber wenn ich sehe, wie hart er arbeitet und wie sehr er sein Comeback schaffen will, dann bin ich mir sicher, dass er ganz stark zurückkommt. Auch wenn es mir sehr gutgetan hat, dass er mich im Sommer so intensiv begleiten und mir mit seiner Erfahrung als Ratgeber zur Seite stehen konnte: Er gehört einfach als Spieler auf die ATP-Tour.