Unter der Dominanz von Wladimir Klitschko leiden Zuschauer und Boxer. Kubrat Pulev fordert ihn Sonnabend heraus

Hamburg. Begegnen sich zwei Schwergewichtler. „Du, ich habe Wladimir Klitschko getroffen!“, sagt der eine. „Wirklich? Und, was ist passiert, hat er gewackelt?“, fragt der andere aufgeregt. „Nein“, sagt der erste, „er hat einfach nur Hallo gesagt.“

Lachen kann über diesen Scherz kaum noch jemand in der Berufsboxszene, und das hat seinen guten Grund. Wladimir Klitschko hält das als Königsklasse des Sports geltende Schwergewicht, das Limit über 90,72 Kilogramm, wie ein Schraubstock zwischen seinen Fäusten gefangen. Unter der Dominanz des 38 Jahre alten Ukrainers, der die WM-Titel der Verbände WBA, WBO und IBF hält, ächzen längst nicht mehr nur dessen Herausforderer und die eingefleischten Boxfans, sondern auch durchschnittlich interessierte Sportkonsumenten. Bei seiner bislang letzten Titelverteidigung im April brachte es „Doktor Stahlhammer“ fertig, von seinem völlig überforderten Kontrahenten Alex Leapai nicht ein einziges Mal innerhalb der viereinhalb Runden, die der „Kampf“ dauerte, getroffen zu werden. Dass Klitschko keine Gegner mehr habe, ist deshalb die kaum überraschende Schlussfolgerung vieler Fans.

Ob es Kubrat Pulev gelingen kann, diese Ansicht zu erschüttern, ist kaum seriös zu beantworten. Der Bulgare steigt an diesem Sonnabend (22.10 Uhr/RTL) in der Hamburger O2 World als Pflichtherausforderer des Weltverbandes IBF mit Klitschko in den Ring. Weil der 33-Jährige, der vom Berliner Sauerland-Team promotet wird, sich weigerte, von seiner rund 1,4-Millionen-Euro-Kampfbörse die Sanktionsgebühren an WBA und WBO zu zahlen, könnte er Klitschko bei einem Sieg lediglich den IBF-Gürtel entreißen, die Titel von WBA und WBO wären dann vakant.

Die Waffen, um den Champion zu überwinden, hat Pulev in der Theorie schon. Der 1,94 Meter lange Athlet, der beim offiziellen Wiegen im Elbe-Einkaufszentrum 112 Kilo und damit ein Pfund mehr als der vier Zentimeter größere Titelverteidiger wog, ist technisch und taktisch auch dank seiner langen Amateurkarriere bestens ausgebildet.

Er schlägt einen harten, schnellen Jab und weiß sich geschickt gegnerischen Attacken zu entziehen. Allerdings ist seine Schlaghärte mit elf Knock-outs aus 20 allesamt siegreichen Profikämpfen nicht sonderlich beeindruckend. Vor allem aber bleibt, bis am Sonnabend der erste Gong ertönt, seine Nehmerfähigkeit das größte Rätsel. Zwar hat die „Kobra“, so Pulevs Kampfname, mit Alexander Dimitrenko, Alexander Ustinov und Tony Thompson mehrfach Gegner mit den körperlichen Ausmaßen Klitschkos bezwungen, einen Mann von dessen sportlicher Größe hatte er aber nie vor den Fäusten.

Bislang zeigte sich der Bulgare von Klitschkos Psychospielchen relativ unbeeindruckt. Im Gegenteil, er versuchte, mit dummdreisten Dopingvorwürfen und einem Boykott der Pressekonferenz seinerseits Unruhe im Lager des Gegners zu erzeugen. Weil aus Kiew Wladimirs fünf Jahre älterer Bruder Vitali zur obligatorischen Unterstützung angereist war, hatte Pulev seinen jüngeren Bruder Tervel, einen Weltklasse-Amateurboxer, als Verstärkung mitgebracht. Auch beim obligatorischen Stare-down nach dem Wiegen hielt er dem Blick des Champions stand, während im Hintergrund Klitschko-Stalker Shannon Briggs seine Beleidigungen bellte. Aber was passiert, wenn die Führhand einschlägt, mit der Klitschko schon so viele selbstbewusste Gegner zermürbt hat? Ob dann auch Pulevs Mut zusammenschmilzt wie der Schneemann im Ofenrohr, das bleibt abzuwarten.

Wladimir Klitschko wäre, das hat er in den vergangenen Wochen mehrfach betont, nicht traurig, wenn es genauso käme. „Ich verstehe, dass es für die Fans interessanter wäre, wenn der Weltmeister mal in Schwierigkeiten geriete“, sagt er. „Aber meine Dominanz ist mir wichtig. Ich will noch einige Jahre im Sport bleiben, und dafür wären Kämpfe, nach denen ich mich wochenlang erholen muss, nicht gut. Deshalb bin ich sehr darum bemüht, die Fans auch weiterhin mit meiner Dominanz zu langweilen.“

Wie kaum ein Schwergewichtsboxer vor ihm versteht es der in bislang 65 Profikämpfen nur dreimal besiegte Wahl-Hamburger, der vor zehneinhalb Jahren das letzte Mal (gegen den US-Amerikaner Lamon Brewster) verlor, seit 2006 Weltmeister ist und an diesem Sonnabend seinen 26. WM-Kampf bestreitet, Treffer seiner Gegner zu vermeiden. Mit seiner Führhand, die als bester Jab der Welt gilt, hält er Angreifer auf Distanz; kommen sie ihm doch zu nah, legt er sich gern mit seiner gesamten Körpermasse auf sie. Er tut das, um nie wieder erleben zu müssen, was ihm im Jahr 2003 widerfuhr, als der Südafrikaner Corrie Sanders ihn in Runde zwei ausknockte. „Diese Schläge vergesse ich nie, härter hat mich niemals jemand getroffen. Den bitteren Geschmack von damals habe ich noch immer im Mund“, sagt er.

Diese Angst vor der Niederlage, vor der Erniedrigung, sie ist das, was den werdenden Vater, dessen Verlobte Hayden Panettiere hochschwanger in den USA auf die Niederkunft am 1. Dezember wartet, antreibt. „Es ist eine positive Angst. Keine, die mich lähmt, sondern eine, die mich wach sein lässt“, sagt er.

Weil er diesen Antrieb auch im Training spüre, könne er sich immer aufs Neue motivieren. „Ich bereite mich immer auf den schlimmsten Fall vor: dass der Gegner allen Schlägen ausweicht, sie kontert, schneller und aggressiver ist als erwartet. Selbst dann will ich in der Lage sein, nicht getroffen zu werden. Ich möchte meine Leistung von Kampf zu Kampf steigern und nicht der bleiben, der ich im vorangegangenen Kampf war“, sagt er.

Den Muskelriss im Bizeps des rechten Arms, den sich Klitschko im August im Trainingslager in Tirol zugezogen und der zur Verschiebung des ursprünglich für den 6. September geplanten Duells mit Pulev geführt hatte, hat der Weltmeister auskuriert. Er fühlt sich „körperlich, athletisch und mental zu 100 Prozent fit, und das muss ich auch, sonst würde ich nicht in den Ring steigen“. Es sieht also alles danach aus, als wäre es auch Sonnabendnacht wieder Wladimir Klitschko, der lacht.