Wladimir Klitschko verteidigt am 26. April seinen Box-WM-Titel gegen Alex Leapai. Im Interview spricht er über die Rolle als Favorit, die Lage in seiner Heimat Ukraine und Olympia in Hamburg.

Going. Dass man an einem traumhaft schönen Ort wie dem Fünfsternehotel Stanglwirt am Fuße des Wilden Kaisers die Zeit vergisst, kann passieren. Wladimir Klitschko hatte bei der Medienrunde in der Bibliothek mit Blick auf die schneebedeckten Tiroler Berge das aktuelle Datum nicht präsent, wurde aber dezent darauf hingewiesen, dass er an diesem Donnerstag ein ganz besonderes Jubiläum zu feiern hat. Vor genau zehn Jahren erlitt der Schwergewichts-Boxweltmeister, der sich in Österreich auf die Verteidigung seiner Titel der WBO, IBF und WBA am 26. April in Oberhausen gegen den Australier Alex Leapai vorbereitet, die dritte und bis dato letzte Niederlage seiner Profikarriere. In Las Vegas unterlag er am 10. April 2004 dem US-Amerikaner Lamon Brewster durch Aufgabe nach fünf Runden. Dass der 38 Jahre alte Ukrainer nicht in Feierlaune ist, liegt allerdings weniger an der Bedeutung dieses Tages für seine Karriere als an den Vorgängen in seiner Heimat, in der sich sein älterer Bruder Vitali besonders engagiert.

Hamburger Abendblatt: Herr Klitschko, wie werden Sie Ihr spezielles Jubiläum feiern?

Wladimir Klitschko: Ehrlich gesagt spielen die ganzen Zahlen für mich keine große Rolle. Es bringt mir nichts, zehn Jahre unbesiegt zu sein, wenn ich den nächsten Kampf verliere. Ich genieße die Zeit an der Spitze, und ich genieße alle Herausforderungen, die ich bekomme. Aber ich ruhe mich nicht auf Erfolgen aus, denn das ist es, was mich diese Niederlage gegen Brewster gelehrt hat. Dass ich niemals jemanden unterschätzen darf und dass ich immer alles geben muss. Ich bin kürzlich 38 Jahre alt geworden, und ich spüre, dass die Kombination aus Erfahrung, Athletik, Technik und Strategie einen vollkommenen Profi aus mir macht. Vor ein paar Jahren dachte ich, dass es nicht besser und weiter geht. Aber jetzt weiß ich, dass das Alter ebenso nur eine Zahl ist wie dieses Jubiläum. Entscheidend ist, was man daraus macht, und da ist meine Mission noch lange nicht beendet. Ich versuche immer noch, jeden Tag ein Stückchen besser zu werden.

Mit Alex Leapai wartet erneut ein Herausforderer, von dem die meisten Experten nichts erwarten. Das Gefühl, als haushoher Favorit in den Ring zu steigen, kennen Sie seit Jahren. Ermüdet Sie das?

Klitschko: Es ist so, wie ich es sagte. Ich werde niemals mehr jemanden unterschätzen, auch Leapai nicht. Ich gebe zu, dass auch ich überrascht war, dass er den Ausscheidungskampf gegen Denis Boytsov gewonnen hat. Ich hatte fest damit gerechnet, am 26. April gegen Boytsov zu kämpfen. Aber jetzt ist es anders. Boytsov und seine Leute haben ihn unterschätzt, die dachten, er wäre ein Aufwärmgegner für Klitschko. Den Fehler mache ich nicht. Leapai hat kaum Amateurerfahrung, er hat von Technik, Taktik und Strategie wenig Ahnung. Aber er hat ein riesiges Herz, und vor allem hat er nichts zu verlieren. Er wird mit großem Willen in den Ring steigen und pure Gewalt ausüben, denn das ist seine Stärke. Und er hat das Talent, seine Gegner zu schockieren. Deshalb bin ich gewarnt. Aber auch ich bin hungrig und will beweisen, dass ich zu Recht Champion bin.

Wie sehr hilft Ihnen Ihre Lebenserfahrung, dass Sie sich in dieser Phase auf Ihren Sport konzentrieren können, während in Ihrer Heimat die Menschen um Freiheit, um ihre Zukunft kämpfen?

Klitschko: Die Kunst ist es, sich auf das Wichtige zu konzentrieren, und dabei hilft Lebenserfahrung sehr. Dennoch muss ich zugeben, dass ich derzeit nur mit dem Körper in der Vorbereitung bin, mit dem Kopf aber in der Ukraine. Das passt eigentlich nicht zusammen, aber das, was passiert, kann man nicht einfach an sich vorbeiziehen lassen. Ich kann nicht zu dem schweigen, was die Schlagzeilen der Weltpolitik bestimmt. Es sind ganz spezielle Zeiten für alle Ukrainer, wo auch immer sie leben.

Die Gefahr ist also groß, dass Sie nicht optimal vorbereitet in Ihren nächsten Kampf gehen, weil Sie mit dem Kopf nicht bei der Sache sind?

Klitschko: Nein, ich habe mich bewusst in die Vorbereitung reingebissen, weil ich beweisen will, dass ich es schaffen kann, mein Land auch in dieser schweren Phase zu repräsentieren. Ich bin als Weltmeister ein Botschafter der Ukraine, und ich wünsche mir sehr, dass wenigstens für die zwölf Runden, oder wie lang der Kampf auch dauern wird, alle Menschen, die derzeit an der Lage in der Ukraine leiden, ihre Sorgen vergessen und einen Moment der Freude haben können. Ich glaube fest an die Worte des großen Nelson Mandela, dass der Sport die Kraft hat, die Welt zum Guten zu verändern. Deshalb widme ich den Kampf dem ukrainischen Volk. Er ist mein Beitrag, der Ring ist meine Bühne, weil Boxen das ist, was ich am besten kann im Leben.

Die Bühne Ihres Bruders Vitali ist seit Monaten die Weltpolitik. Beneiden Sie ihn um diese Rolle, oder bemitleiden Sie ihn eher?

Klitschko: Weder noch, aber ich glaube, dass er derzeit eher mich beneidet. Er war zu meinem Geburtstag am 25. März hier im Trainingscamp, er hat mit mir trainiert und mehrfach gesagt, wie gut ich es hätte und wie gern er mit mir tauschen würde.

Wird er, wie üblich, am 26. April in Ihrer Ecke stehen, oder müssen Sie diesmal allein klarkommen?

Klitschko: Er kann nichts versprechen, aber sofern es die politische Lage zulässt, wird er kommen. Wenn er es nicht schafft, habe ich natürlich auch vollstes Verständnis und werde das Gleiche tun, was ich mit ihm in der Ecke tun würde. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass er fehlt. Dennoch bedeutet es mir viel, wenn er dabei ist. Seit er selbst nicht mehr boxt, liegt der Druck ja allein auf mir, aber ich liebe das. Ich kämpfe ja immer noch für uns beide.

Wie oft haben Sie in den vergangenen Monaten Angst gehabt, dass Ihrem Bruder etwas zustößt?

Klitschko: Ich habe mir oft Sorgen gemacht, um Vitali genauso wie um alle anderen Menschen, die auf dem Maidan und anderswo für die Freiheit kämpfen. Aber Angst um sein Leben hatte ich nicht. Ich war bis zum 25. Februar, als die Vorbereitung startete, regelmäßig in der Ukraine, habe alles selbst miterlebt, die Barrikaden, die Kämpfe. Ich hätte alles genauso gemacht wie Vitali.

Waren Sie überrascht, dass er sein Ziel, Präsident zu werden, aufgegeben hat? Normalerweise kämpft Ihr Bruder doch bis zum Schluss.

Klitschko: Das zeigt seine Mentalität und seine Stärke, denn er hat eingesehen, dass die Chancen, die Ukraine zu verändern, größer sind, wenn ein anderer zur Wahl antritt. Ich unterstütze ihn in seiner Entscheidung und bin überzeugt, dass sie richtig war, um das Land nach vorn zu bringen.

Die Kampfszenen im ukrainischen Parlament, die Drohungen Russlands – wie groß ist Ihre Angst vor Eskalation?

Klitschko: An die Bilder von Kampfszenen im Parlament haben wir uns ja leider schon gewöhnt, die gab es auch früher schon. Ich bin nur froh, dass Vitali dort nicht involviert ist. Es geht um Diplomatie, nicht um Faustrecht, und ich hoffe, dass das irgendwann alle gelernt haben. Was die Propaganda aus Russland angeht, dass der Westen hinter den Protesten gegen die alte Regierung steckte, weiß ich, dass das Unsinn ist. Ich war dort, auf dem Maidan, als es 100 Demonstranten waren, und ich war da, als es eine halbe Million waren. Es ist das Volk, das sich wehrt. Man versucht jetzt, die Ukraine zu teilen, aber dass wir eine Einheit sind, haben wir bei der Fußball-EM bewiesen. Uns zu spalten, das schafft niemand. Ich bin mir sicher, dass die Ukraine ein blühendes Land sein wird, aber alles hat seine Zeit. Jetzt müssen wir hart arbeiten, damit das, was wir gemeinsam aufgebaut haben, nicht umsonst war. Und ich will mit dem Sport meinen Beitrag leisten.

Das bringt uns zum Abschluss zu einem anderen Thema, bei dem der Sport ebenfalls die Welt zusammenbringt. Ihre zweite Heimat Hamburg will sich erneut um Olympische Sommerspiele bewerben. Würden Sie als Botschafter für eine solche Kandidatur werben?

Klitschko: Gerne sogar. Leider kann ich 2024 nicht mehr als Sportler an den Spielen teilnehmen. Aber ich fände es super, wenn Hamburg die Chance hätte, sie auszurichten. Ich war 1996 selbst Olympiasieger, ich weiß, was es bedeutet, die Spiele auszutragen und zu erleben. Ich würde Hamburg und den Hamburgern sehr wünschen, das auch erleben zu können.