Ein Kommentar von Rainer Grünberg

Das außergewöhnliche Talent haben ihr schon einige bescheinigt. Jetzt hat Sabine Lisicki bewiesen, dass sie den Tennisschläger auch dann fest im Griff hat, wenn es gilt – wie im Wimbledon-Halbfinale gegen die Weltranglistenvierte Agnieszka Radwanska –, Sportgeschichte zu schreiben. In der Vergangenheit hatte sie in Momenten wie diesen an vieles gedacht, oft aber nicht daran, dass die Konzentration auf den nächsten zu spielenden Punkt unteilbar ist. Boris Becker, dessen Karriere 1985 ebenfalls an der Londoner Church Road begann, hat den Unterschied zwischen einem Champion und der Masse derjenigen, die einmal einer werden wollen, treffend beschrieben: „Bis 4:4 kann jeder!“ Lisicki konnte jetzt bis 9:7, und das im dritten, entscheidenden Satz.

Das deutsche Damentennis hat in den vergangenen Jahren großen Zuspruch erfahren. Nur: Die Begabteste des Quintetts um Angelique Kerber, Andrea Petkovic, Julia Görges und Mona Barthel, ebendiese Lisicki, schaffte es bislang nur bis auf Platz zwölf der Weltrangliste. Gewinnt die 23-Jährige auch das Finale, wird sie zum ersten Mal dort auftauchen, wo eine Spielerin ihrer Klasse hingehört: unter den Top ten. Ihre couragierten Auftritte in Wimbledon sollten Lisicki die letzten Zweifel genommen haben, dass sie weit mehr kann, als sie bislang zeigte. Mit dem gewonnenen Selbstvertrauen könnte sie vor allem vermeiden, was sie zuletzt immer wieder zurückwarf: unnötige Fehler. 46 waren es gegen Radwanska. Wer darauf mit 60 Gewinnschlägen antworten kann, muss keine Gegnerin mehr fürchten.