Ex-Handball-Star Stefan Kretzschmar über das Scheitern der Nationalmannschaft in der EM-Qualifikation und die möglichen Folgen des historischen Debakels.

Aschaffenburg/Berlin. Der deutsche Handball liegt am Boden. Zwar gewann die Nationalmannschaft ihr letztes Qualifikationsspiel für die Europameisterschaft im Januar 2014 in Dänemark in Aschaffenburg gegen Israel 38:19 (21:12). Weil aber Tschechien 30:25 über Montenegro siegte, verblieb die deutsche Auswahl mit 6:6 Punkten auf Platz drei ihrer Qualifikationsgruppe. Erstmals seit 1994, der ersten EM in Portugal, findet nun ein kontinentales Kräftemessen ohne Mitwirken der Deutschen statt. Für Handballidol Stefan Kretzschmar, 40, kommt dies einer Katastrophe gleich.

Hamburger Abendblatt: Herr Kretzschmar, wie schwer wiegt das EM-Aus der deutschen Nationalmannschaft?

Stefan Kretzschmar: Das ist ganz, ganz heftig. Von den vergangenen drei Großereignissen haben wir jetzt mit Olympia und EM zwei verpasst. Das ist für den deutschen Handball ein Fiasko.

Mit welchen Folgen?

Kretzschmar: Gerade im Kampf um Platz zwei hinter König Fußball ist das Ergebnis ein großer Rückschlag gegenüber anderen Sportarten wie Basketball oder Eishockey. Die Entwicklung ist bedrohlich, meiner Meinung nach erlebt der deutsche Handball derzeit seine größte Krise überhaupt. Noch sind die Folgen des EM-Scheiterns aber gar nicht abzusehen. Was wird aus dem Fernsehvertrag, wie verhalten sich die Sponsoren, wie stark sinken wir in der öffentlichen Popularität?

Woran ist das Team gescheitert?

Kretzschmar: An dem Mangel an mentaler Stärke und handballerischem Know-how. Da hat es nicht ausgereicht. Wenn ich mir die Gruppe anschaue, darf es niemals passieren, dass dieses Team zweimal gegen Montenegro verliert. Tschechien ist gut – aber der Rest? Da darf eine Nationalmannschaft niemals scheitern, da gibt es keine Ausreden. Was mich noch ärgert, ist der Egoismus vieler Spieler. Es ist ein Unding, wenn einige nicht für das Nationalteam spielen wollen und stattdessen Eigeninteressen in der Vordergrund stellen.

Wen meinen Sie?

Kretzschmar: Die Spieler wissen schon, wen ich angesprochen habe. Ich möchte da jetzt niemanden öffentlich auf den Scheiterhaufen stellen.

Was wird aus Bundestrainer Martin Heuberger, der zwei Jahre im Amt ist?

Kretzschmar: Er ist nicht der Alleinschuldige. Die Spieler haben jetzt ja alle Schuld auf sich genommen. Aber die Nationalmannschaft hat zweimal versagt, als es darauf ankam. Da muss sich auch der Bundestrainer fragen lassen, ob er noch der Richtige ist.

Dabei dachten wir, nach WM-Platz fünf im Januar würde es aufwärtsgehen.

Kretzschmar: Damals stand die Mannschaft nicht unter hohem Erwartungsdruck. Gegen Montenegro in der EM-Qualifikation, das waren „Do-or-die-Spiele“, maximaler Druck – und da hat Deutschland eben zweimal versagt.

Wie geht es weiter? Die Verbandsspitze scheut sich, Konsequenzen zu ziehen.

Kretzschmar: Wir dürfen uns nicht hinstellen und sagen, dass wir auf einem guten Weg sind. Der deutsche Handball muss bei seiner Größe und seinen Möglichkeiten ständig unter den Top 4 bei EM, WM oder Olympia platziert sein. Jetzt gelingt nicht mal mehr die EM-Qualifikation. Das ist eine Katastrophe. Und dass die Verbandsspitze beim Bundestag im September geschlossen abtritt, ist ebenfalls ein unglücklicher Zustand. Die Motivation der Verantwortlichen, jetzt noch unangenehme Entscheidungen zu treffen, tendiert doch gen null. Das ist eine unerträgliche Situation und zeigt, wie mies die Außendarstellung des Verbandes derzeit ist.

Woran krankt es vor allem?

Kretzschmar: Ich kann mich als Verbandsspitze doch nicht hinstellen und bei dieser machbaren EM-Qualifikation von einer Todesgruppe reden. Außerdem wurde gesagt, dass es schwer würde, die Nationalspieler nach dieser Saison noch entsprechend zu motivieren. Da fasse ich mir doch an den Kopf. In so einer Gruppe musst du dich durchsetzen. Punkt. Jetzt läuft der deutsche Handball Gefahr, sein Aushängeschild für die nächsten Jahre zu verlieren. Wir sind am Boden. Und was tun die Verantwortlichen? Die machen Urlaub und setzen sich erst im August zusammen, um über Konsequenzen des Debakels zu beraten.

Gibt es auch irgendwo noch Hoffnung auf Besserung?

Kretzschmar: Den Blickkontakt zur Weltspitze haben wir nicht völlig verloren. Einige Positionen in der Mannschaft, etwa im Tor, im rechten Rückraum und auf der Rechtsaußenposition, sind erstklassig besetzt. Aber die Spieler müssen das auch dauerhaft zeigen – dann kommen wir wieder nach oben.