Der gebürtige Hamburger Tommy Haas verpasste zunächst zwölf Matchbälle und bezwang John Isner trotz 1:4 im fünften Satz mit Matchball gegen sich. Nun greift Haas nach den Sternen

Paris. Tommy Haas tippte sich mit der Faust an die Brust, als wollte er den Fans in Paris sagen: Seht her, das große, alte Tennis-Herz schlägt auch nach einem Dutzend verpasster Matchbälle weiter. Mehr noch – der Achtelfinal-Einzug bei den French Open nach dem unvergesslichen Viereinhalb-Stunden-Triumph über John Isner ist für den 35-Jährigen kurz vor dem Sport-Ruhestand ein Schrittmacher.

„Deswegen macht man weiter, weil man solche Matches erleben kann und darf. Wenn man's macht und dann hier und da belohnt wird, dann macht es Sinn, und man ist dankbar für die Möglichkeit“, sagte der älteste im Herren-Feld verbliebene Profi fast trocken nach dem 7:5, 7:6 (7:4), 4:6, 6:7 (10:12), 10:8 über Aufschlagriese Isner. Der Amerikaner hatte 2010 in Wimbledon beim 70:68 im fünften Satz nach 11:05 Stunden gegen den Franzosen Nicolas Mahut einen Rekord für die Ewigkeit aufgestellt. Doch auch die bittere Niederlage gegen Haas wird ihren Platz im illustren Buch der Tennis-Geschichte finden.

Haas ordnet sie in seine persönlichen Top Ten ein: „Es war eine große Achterbahnfahrt. Es wird eines der besten Matches sein, um sich daran zu erinnern.“ Aber noch nicht jetzt. Angesichts der Chance auf den ersten Viertelfinal-Einzug in Paris an diesem Montag gegen den Russen Michail Juschni hielt Haas seine Emotionen im Zaum.

Die Tennis-Welt um ihn herum hatte fasziniert das intensive, spektakuläre und unfassbar spannende Duell mit nicht für möglich gehaltenen Wendungen verfolgt. „Das Match war auf jedem Fernseher drauf. Jeder hat sich das gespannt angeschaut“, berichtete Philipp Kohlschreiber aus der Umkleide im Stade Roland Garros. Sein Match gegen Victor Hanescu wurde wegen der Überlänge der Haas-Partie verlegt. Kohlschreiber litt mit Haas, andere fieberten mit dem 2,06 Meter langen Isner, als es bei einer 6:5-Führung für den deutschen Wahl-Amerikaner Ende des vierten Satzes erst so richtig losging.

Neun Matchbälle wehrte Isner nervenstark dank seiner gewaltigen Aufschläge ab. „Ich habe vergessen, wie viele ich überhaupt hatte. Ich wusste, dass es einige waren“, erzählte Haas. Nur zwei-, dreimal hatte er eine kleine Chance. Meist muss es ihm in der sogenannten Stierkampfarena vorgekommen sein, als sollte er mit bloßen Händen einen Bullen fangen, der mit der Geschwindigkeit eines TGV auf ihn zuraste. Im Tiebreak hatte Haas beim 8:7 endlich die erste Chance mit eigenem Service – und verschwendete sie mit einem Doppelfehler.

So viele Varianten waren ihm durch den Kopf gegangen, auch ein Netzangriff nach dem Aufschlag. Doch er hatte Angst davor. „Hinterher sagt man sich: Mach's doch, du Depp.“ Adrenalin und Hass auf sich selbst nach dem Dutzend verpasster Chancen schossen Haas durch Kopf und Körper. „Wenn Tommy Boy Haas nicht gewinnt, ist das die brutalste Niederlage, die ich in mehr als 30 Jahren Profitennis gesehen habe“, twitterte Trainer-Veteran Brad Gilbert.

Aus dem folgenden Loch nach 0:3- und 1:4-Rückständen buddelte er sich wieder aus, weil Isner beim zweiten Fünf-Satz-Match binnen zwei Tagen müde wurde. Der Weltranglisten-21. hatte dennoch Matchball beim 5:4, ein Rahmentreffer von Haas klatschte auf die Linie – und weiter ging's. Isner setzte sich wegen Krämpfen in den Pausen nicht mehr und war nach seiner Rückhand ins Aus beim 13. Matchball des Deutschen total bedient. „Im Nachhinein wäre es besser gewesen, ich hätte in drei Sätzen verloren, denn jetzt geht es mir furchtbar“, gestand er. „Nimmermüder Haas“, titelte dagegen am Sonntag die französische Sportzeitung L'Equipe.

Schade nur, dass im Fernsehen nicht das komplette Match zu sehen war. „Wie in aller Welt kann man diesen Fünf-Satz-Thriller nirgendwo in Europa live im TV zeigen?“, wunderte sich Sabine Lisicki, ehe sie doch noch die Schlussphase geboten bekam. Zuvor hatte der in Paris fehlende Olympiasieger Andy Murray das Gleiche gefragt. Haas' Frau Sara Foster war angesichts des Nervenkitzels froh, dass sie mit dem Töchterchen im Hotel geblieben war und gratulierte ihm stolz: „Du bist weiterhin eine Inspiration.“