Der Hamburger Olympiavierte moniert vor den deutschen Meisterschaften in Berlin das mangelnde Ansehen und überzogene Erwartungen an seinen Sport.

Hamburg. Vor acht Monaten erlebten die deutschen Schwimmer bei den Olympischen Spielen in London ein historisches Debakel, als sie im Becken keine einzige Medaille gewannen. Bei den deutschen Meisterschaften, die an diesem Donnerstag in Berlin beginnen, soll die Basis dafür gelegt werden, dass es bei den Weltmeisterschaften Ende Juli in Barcelona wieder aufwärtsgehen kann. Einer der Hoffnungsträger ist dabei der Hamburger Steffen Deibler, 25, der in London für einen der wenigen Lichtblicke gesorgt hatte, als er über 100 Meter Schmetterling im Finale als Vierter anschlug und das beste deutsche Einzelresultat holte. Auch sein Bruder Markus, 23, der als Olympiaachter über 200 Meter Lagen die Ansprüche erfüllte, will sich über Berlin für Barcelona empfehlen.

Für viele Beobachter ist Steffen Deibler nach der Absage von Doppel-Weltmeister Paul Biedermann der neue Anführer im Team. "Ich spüre keinen vermehrten Druck", sagte der Hamburger gelassen. "Ich habe mich nach Olympia auf mein Studium konzentriert. Man darf in Berlin keine Wunderdinge von mir erwarten." Dennoch waren seine Leistungen in dieser Saison ansprechend. Bei den Hamburger Meisterschaften schwamm er bereits locker die geforderte WM-Norm über 100 Meter Schmetterling. "Mein Ziel in Berlin sind die WM-Normen über meine Paradestrecken 50 und 100 Meter Schmetterling und in Barcelona das WM-Finale." Langfristig liege sein Schwerpunkt aber auf der olympischen 100-Meter-Distanz. Bei den Spielen 2016 in Rio de Janeiro will Deibler dann "mindestens einen Platz besser abschneiden".

Für das Erreichen seines Ziels, die erste internationale Einzelmedaille auf der 50-Meter-Bahn, könne er sich kein besseres Trainingsrevier vorstellen als den Olympiastützpunkt am Dulsbergbad, sagte Deibler, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Umwelttechnik studiert. Hier habe er "Top-Bedingungen", mit seiner Trainerin Petra Wolfram sei er "sehr zufrieden". Ein Wechsel nach Essen zum neuen Bundestrainer Henning Lambertz komme derzeit nicht infrage. Durch seinen Hamburger Mentaltrainer Ulrich Oldehaver habe er "endlich wieder Spaß am Schwimmen" gefunden, nachdem er bei Wettkämpfen zuvor "oft viel zu angespannt war".

Mehr Gedanken macht sich Deibler über den grundsätzlichen Stellenwert seines Sports in Deutschland. Es sei nicht hinnehmbar, "wenn man sich als Leistungssportler jeden Tag den Hintern aufreißt, um am Ende als Fünfter oder Siebter von den Medien ausgebuht zu werden". In den USA würde jeder Platz gefeiert, während sein vierter Rang in der Olympia-Berichterstattung völlig untergegangen sei. Die hohe öffentliche Erwartungshaltung kann er nicht nachvollziehen: "Ich glaube nicht, dass wir angesichts der finanziellen Rahmenbedingungen in Deutschland den Anspruch stellen können, im Schwimmen eine internationale Topnation zu sein."

Dass junge Sportler in Deutschland finanziell auf sich allein gestellt sind, hat Deibler als einen Grund für die Nachwuchssorgen beim Deutschen Schwimmverband ausgemacht: "Wenn viele Talente wüssten, dass sie finanziell abgesichert wären, würden sie es probieren", sagt Deibler. "Stattdessen verliert der deutsche Schwimmsport etliche Talente beim Wechsel von der Schule zum Studium, weil ihnen die finanzielle Absicherung fehlt." Am Ende verdienten selbst Topschwimmer zu wenig, deshalb würden viele hoffnungsvolle Jugendliche von ihren Eltern letztlich doch zum Fußball geschickt. Allgemein sei Schwimmen in Deutschland schlichtweg nicht so anerkannt wie beispielsweise in Frankreich.

Auch beim unvermeidlichen Thema Doping äußert sich Deibler kritisch. Vor allem der Fall des Brasilianers César Cielo, Deiblers Konkurrent auf den kurzen Freistildistanzen, wurmt ihn. "Es kann nicht sein, dass Leistungssportler eindeutig gegen die Regularien verstoßen und trotzdem bei Großereignissen starten dürfen", sagt Deibler anspielend auf den Start des Peking-Olympiasiegers in London - trotz einer positiven Dopingprobe. "Er hätte gesperrt werden müssen. Alles andere ist ein Freibrief für Doper."