Die Niederlage gegen Tunesien hat die Führungsschwäche der deutschen Handballer offengelegt. Der Schuldige ist schon ausgemacht: die Bundesliga.

Granollers. Man kann das Thema auch mit Ironie betrachten. "Warum sind es eigentlich immer die Deutschen, die nach Führungsspielern fragen", diese Gegenfrage stellt stets mit einem Lächeln Alfred Gislason, der Trainer des THW Kiel, wenn behauptet wird, dem deutschen Handball fehle es an "Leadern", an Persönlichkeiten, die in kritischen Lagen vorangehen und Verantwortung übernehmen. Die Süffisanz erschließt sich, wenn man weiß, dass Gislason ausgebildeter Historiker ist.

Andererseits: Die 23:25-Niederlage der Auswahl des Deutschen Handball-Bundes (DHB) am Sonntag gegen Tunesien, die das Team bei der Weltmeisterschaft in Spanien in große Probleme stürzt, warf exakt diese Fragen auf: Wie kann es sein, dass eine Mannschaft aus Nordafrika, die ohne Zweifel nicht die besten äußeren Bedingungen zur Verfügung hat, wenig Trainingshallen etwa, im Rückraum die besseren Individualisten stellt? Wie kann es sein, dass ein 21-Jähriger wie Wael Jallouz, der im Männerbereich bisher nicht auffällig geworden ist, das Mutterland des Handballs mit acht Toren aus mehr als zehn Metern lächerlich macht? Wie kann es sein, dass der DHB, mit über 850.000 Mitgliedern bekanntlich der stärkste Verband im Weltverband IHF, mit seinem Pool nicht solche Nachwuchsleute zu rekrutieren vermag?

Im Viersternehotel Ciutat des Granollers, in dem das Team während der WM-Vorrunde logiert, lösen solche Fragen Stirnrunzeln aus. "Das ist schwierig zu beantworten", sagt Michael Haaß, der Regisseur von Frisch Auf Göppingen. Klar sei, dass da irgendwo Probleme lägen. "Denn viele Leute, die heute hier spielen, sind ja durch das Ausbildungssystem durchgerasselt." Für eine solche Grundsatzdebatte sei derzeit aber keine Zeit, sagen Bundestrainer Martin Heuberger und auch die deutschen Profis. Nun gehe es vor allem darum, mit Siegen am Dienstag gegen Argentinien (18.15 Uhr/ARD) und Montenegro (Mittwoch) den Einzug in das Achtelfinale klarzumachen. Sollte das gelingen, wäre ja im Spiel gegen Olympiasieger Frankreich (Freitag) sogar noch der Gruppensieg möglich.

Eigentlich gibt es ja deutsche Profis, die diesen Führungsanspruch für sich reklamieren. Etwa Sven-Sören Christophersen, der Halblinke von den Füchsen Berlin. "Ich will Verantwortung in dieser Mannschaft übernehmen, das wollte ich immer", sagte Christophersen vor diesem Turnier. Die nötige Erfahrung hat der Rechtshänder in den vergangenen Jahren in der Champions League auch gesammelt. Aber Christophersen ist jetzt bereits 27 Jahre alt. Und in der DHB-Auswahl trat er erstmals bei der EM 2012 in Serbien wirklich in Erscheinung. Er ist ein schlauer, gewiefter Handballer. Aber er verfügt, ohne ihm nahezutreten, nicht über den Wurf und die Sprungkraft von Jallouz, dem Schrecken des deutschen Handballs, der von Sommer an beim THW Kiel unter Vertrag steht.

Oder ist alles nur eine Laune der Natur? Heuberger sieht es so. Jallouz sei mit seiner Physis eine Ausnahmeerscheinung, ein solcher Handballer stelle aber nicht die Verkörperung einer erfolgreicheren Ausbildung dar. "Die ausländischen Trainer schauen doch eher danach, was in Deutschland passiert", sagt der Coach, der über Jahre hinweg die Juniorenauswahl des DHB zu vielen Titeln gecoacht hat. "Wir haben sehr wohl im deutschen Handball solche Talente, zum Beispiel Steffen Fäth", sagt Heuberger, dabei liegt ein bisschen Trotz in der Stimme. Auch Christian Dissinger von den Kadetten Schaffhausen sei hoch veranlagt und nur nicht im WM-Kader, weil er lange wegen eines Kreuzbandrisses ausgefallen war. Das Kernproblem liege in der sogenannten Anschlussförderung: "Die Spieler schaffen nicht früh genug den Sprung in die Bundesligamannschaften."

Die Gleichung also lautet: Wer schon in frühen Jahren viel in der Bundesliga spielt, der kommt automatisch auf ein höheres Leistungsniveau, und dies ist die Basis für die Entwicklung einer natürlichen Autorität, die auch andere Spieler mit sich reißt. Aber reicht es, den Bundesligavereinen die Schuld zuzuschieben, dass sie nicht genügend Talente früher entwickeln? Ein Blick auf andere Nationen zeigt, dass es neben Jallouz auch andere junge Profis gibt, die in sehr jungen Jahren enorme Leistungssprünge verzeichnen - auch in hochklassigen Ligen.

Nikola Karabatic war 17 Jahre alt, als er mit Montpellier die Champions League gewann. Aron Palmarsson war 19, als er Island Richtung THW Kiel mit dem Ziel verließ, der beste zentrale Aufbauspieler des Welthandballs zu werden. Diese jungen Leute gehen in die Welt, auch darauf weist Gislason stets hin, mit extrem ambitionierten Zielen, sie lernen neue Sprachen, sie lernen neue Kulturen kennen, auch damit reife eine Persönlichkeit. Und auch das trage zur Leistungssteigerung bei.

Der DHB hat, da dieses Problem seit 2004 auf der Agenda steht, auf dieses Problem reagiert, mit dem sogenannten "Eliteförderungskonzept". Die Idee dahinter ist, den jungen Leuten in den Jahrgängen zwischen 1992 und 1995 den Übergang in den Profihandball zu ermöglichen, indem man ihnen allerbeste sportliche Bedingungen schafft, sie aber auch abseits des Handballfeldes fordert und fördert. Ob dieses Konzept von Erfolg gekrönt sein wird, das weiß der deutsche Handball aber erst in einigen Jahren.