Der alte und neue Weltmeister feierte den Formel-1-Titel bis spät in die Nacht und kündigte an: “Die Story ist noch nicht zu Ende.“

São Paulo. Als Sebastian Vettel um halb vier Uhr am Morgen aus dem edlen Klub "Villa Mix" im Südwesten São Paulos trat, hatte es aufgehört zu regnen. Das leise Dunkel der Nacht empfing den frisch gekürten Weltmeister, der sich gemeinsam mit seiner Freundin Hanna vorzeitig von der Party verabschiedet hatte. Auf dem Weg zurück ins Hotel rollte ihre Limousine über trockene Straßen, das Thermometer zeigte knapp 20 Grad. Es muss dem jungen Paar vorgekommen sein wie die letzte Versöhnung mit dieser denkwürdigen Dienstreise nach Brasilien.

In den Stunden zuvor war der 25-Jährige durch ein emotionales Wellental gehetzt, wie es wohl kaum ein Formel-1-Weltmeister auf der Fahrt zum Titel erleben musste. "Es war eine Qual", gestand Vettel später, "da bleibt einem der Atem weg." In den Ärger über die Startkollision mit Bruno Senna sickerte der Stolz auf eine furiose Aufholjagd im steten Nieselregen. Der Frust über das Verpassen des Sieges mischte sich mit grimmiger Zufriedenheit über seinen sechsten Platz, hinzu kam ein wenig Groll auf seinen Teamkollegen Mark Webber, der ihn in der ersten Kurve nach innen gedrängt hatte. Überstrahlt wurde diese emotionale Verwirrung natürlich von dem Gefühl, die von Saisonbeginn an ausgegebene "Mission Hattrick" erfolgreich abgeschlossen zu haben. "Mir fehlen die Worte, das zu beschreiben", sagte Vettel noch am späten Abend. An seinem größten Tag schien er die Formel-1-Welt zum ersten Mal nicht mehr so richtig zu verstehen.

Es war schlicht zu viel passiert auf den rund 305 Kilometern im Autódromo José Carlos Pace: Erst sah Vettel wie der sichere Weltmeister aus, dann Fernando Alonso, später wieder der Deutsche. Ein Last-Minute-Ausfall des späteren Siegers Jenson Button hätte den Titelrivalen aus Spanien noch in der letzten Kurve zum Champion machen können. So wurde Alonso am Ende Zweiter in jeder Hinsicht und gab zähneknirschend zu: "Wir haben auf ein Wunder gehofft. Leider hat es nicht geklappt." Red-Bull-Designer Adrian Newey, dessen Anspannung sich erst mit deutlicher Zeitverzögerung nach der Zieldurchfahrt in einen erleichterten Jubelschrei auflöste, gestand sogar seine Angst, dass der Bolide mit der Nummer eins jede Sekunde "einfach in Flammen" hätte aufgehen können. Dass Vettel nach seinem Aufeinandertreffen mit Senna gut 70 Runden lang mit einer schwer lädierten Auspuffanlage unterwegs war, ging beinahe unter.

"Es war das härteste Rennen meiner Karriere", sagte Vettel, als er in das T-Shirt mit der Aufschrift "Sebastian V3ttel - Hattrick" geschlüpft war. Auch das Team hatte sich in gleicher Manier in Schale geworfen, doch bevor sich Vettel zum Foto stellte, verbeugte sich der Weltmeister vor den Mechanikern, Ingenieuren, Physiotherapeuten, Kellnern, Köchen, kurzum: allen, die ihn in dieser Saison unterstützt hatten. "Ich bin unheimlich stolz auf das ganze Team. Dieses Jahr war für uns sehr, sehr hart", sagte er. Gemeinsam reckten sie im Blitzlichtgewitter der Fotografen jeweils drei Finger gen Himmel. Sie sollten wohl in erster Linie den historischen Titelhattrick ihres Spitzenfahrers symbolisieren, der als einer von neun Piloten überhaupt dreimal Weltmeister wurde. So jung wie er war keiner vor ihm. Mehr soll folgen.

Unterschwellig drückten sie mit ihrer Geste auch die Red-Bull-Dominanz der vergangenen Jahre aus. Wie Vettel gelang der WM-Hattrick auch dem österreichischen Team, das am Sonntagvormittag flugs einen neuen Namenssponsor präsentiert hatte. Von der kommenden Saison an wird der Rennstall nach der Luxusmarke eines japanischen Autobauers Infiniti Red Bull Racing heißen, Motorsportberater Helmut Marko hat bereits angedeutet, dass damit eine Erhöhung des Budgets einhergeht. Konzernchef Dietrich Mateschitz sagte in seiner Gratulation: "Es wäre schön, wenn es beim nächsten Mal bitte nicht ganz so spannend würde." Der Konkurrenz ist in den vergangenen drei Jahren das Lachen vergangen.

Den Preis für diesen Erfolg muss jetzt nicht zuletzt Sebastian Vettel zahlen. Anstatt mit Freunden und Familie den Beginn der Feiertage nach vorn zu verlegen, schickt ihn Red Bull auf Weltreise: Von São Paulo ging es gestern Nachmittag nach London, wo heute ein Besuch des Werkes in Milton Keynes ansteht. Danach geht es weiter nach Graz, dort findet am Sonnabend eine Showfahrt mit seinem Dienstwagen statt. Sonntag muss er zurück nach London zu den Autosport Awards, tags darauf ist er der Stargast einer Red-Bull-Sendung, die in Salzburg aufgezeichnet wird. Erst Anfang nächster Woche erhält er in Istanbul den WM-Pokal. Ob und wann er in seine Geburtsstadt Heppenheim kommt, ist unklar, zumal er eine Woche vor Weihnachten gemeinsam mit Michael Schumacher auch noch zum "Race of Champions" nach Bangkok reisen wird.

Acht der vergangenen 13 Formel-1-Titel gewannen Rennfahrer aus Kerpen oder Heppenheim. Entsprechend groß war der Andrang, als Schumacher, der sein letztes Rennen als Siebter beendet hatte, seinem designierten Nachfolger als Erster gratulierte. Stolz sei er, sagte der 43-Jährige: "Für ihn habe ich gern Platz gemacht." Wenige Runden vor Schluss war der blaue an dem silberfarbenen Boliden vorbeigezogen, das genaue Maß der Unterstützung lässt sich schwer beziffern. Von nun an ist Vettel der alleinige Herrscher.

Später am Abend stand er allein mit Teamchef Christian Horner beisammen. "Senna, Piquet, Lauda, Stewart, Brabham", zählte Horner die dreimaligen Weltmeister auf. "Fangio, Schumacher und jetzt du!" Sein Schützling blickte auf und sagte: "Du hast Prost vergessen." Horner schaute ihn verblüfft an und nickte dann. Vettel grinste breit und sagte: "Die Story ist noch nicht zu Ende." Und zog von dannen.

Zwei Punkte hat das Abendblatt Michael Schumacher in seiner Montagsausgabe versehentlich unterschlagen. Für Platz sieben in Brasilien kassierte der Altmeister tatsächlich sechs, nicht vier Punkte.