Die deutsche Siebenkämpferin wurde im 800-Meter-Lauf zu Unrecht disqualifiziert. Sie protestierte mit Erfolg

London. Zwei Stunden hatte Lilli Schwarzkopf in der Nacht zu Sonntag geschlafen. Erholsam war das naturgemäß nicht, und durch den Kopf schossen ihr noch immer viel zu viele Dinge. Nur eines, das spürte die 28-Jährige neben all den körperlichen Schmerzen nach dem "Siebenkampf meines Lebens" allemal: große Erleichterung.

Die Erinnerung an diesen irren Sonnabendabend im Londoner Olympiastadion wird die deutsche Leichtathletin in ihrem Leben immer wahren, so viel ist sicher. Nicht bloß wegen ihres zweiten Platzes, des größten Erfolges ihrer Karriere, oder wegen der tosenden Menschenmenge auf den Tribünen. Sondern wegen der, wenn man so möchte, achten Disziplin: dem Kampf um Gerechtigkeit.

Hinter der britischen Gewinnerin Jessica Ennis hatte Schwarzkopf einen bravourösen Wettkampf gezeigt: persönliche Bestleistungen über 110 Meter Hürden, 200 Meter und im Kugelstoßen, dazu einen sehr guten Weitsprung und Einstellung ihrer Bestmarke im Hochsprung. Der Speerwurf "war zwar unterirdisch", doch vor der letzten Disziplin hatte sie bloß läppische fünf Punkte Rückstand auf den Bronzerang. "Da dachte ich: Wow, wow, wow, das wird jetzt ganz schön knackig." Im finalen 800-Meter-Lauf lief Schwarzkopf sich die Seele aus dem Leib, und als sie mit einer Klassezeit vor den besser platzierten Konkurrentinnen ins Ziel stürzte, schien die Sache klar: Für eine Medaille musste es reichen.

Doch Schwarzkopf hatte die Rechnung ohne die Kampfrichter gemacht. Noch auf der Ehrenrunde, auf der sie glücklich Handküsschen in die Kameras hauchte, folgte der Schreck. Die Anzeigetafel wies hinter ihrem Namen "DQF" aus - disqualifiziert, angeblich nach Regel 163.3 (Linienübertretung). Ein Skandal deutete sich an. Um das nachfolgende Drama anschaulich nachvollziehen zu können, lohnte es, Schwarzkopfs Erzählungen noch in den Stadionkatakomben zu lauschen.

"Ich bin momentan so durcheinander wie die Stimmung da draußen", stammelte Schwarzkopf. "Ich habe einen Schiri gefragt, was los gewesen ist, dann den zweiten, den dritten, den vierten. Dann sagt eine britische Schiedsrichterin zu mir: 'Sie haben auf die Linie getreten.' Darauf ich: 'Sie scherzen doch?' 'Doch, doch, Sie haben vorne, in der Kurve, leicht auf die Linie getreten.' Ich antwortete: 'Das müssen Sie mir erst zeigen! Davon gibt's sicherlich Videoaufnahmen.' Die Dame sagte: 'Da muss ich erst nachsehen.'" Was in einem Moment wie diesem abgebrüht klingt, war für die deutsche Siebenkämpferin von zunehmender Verzweiflung geprägt. "Ich dachte, mich schlägt's von den Hacken." Konnte das denn alles wahr sein?

Schwarzkopf erzählte weiter: "Hin und her, hin und her, dann stellte sich heraus: Es ging um die achte oder neunte Bahn. Also sagte ich der Schiedsrichterin: 'Da bin ich gar nicht gelaufen, ich war eher in der Mitte. Ich muss auf jeden Fall Ihre Fernsehaufnahmen sehen!'" Sie ging dann mit der Kampfrichterin zu einem Fernsehraum, wo sie die Aufnahmen sichtete.

"Ich sah den Fuß - aber es war nicht meiner." Schwarzkopf lachte. "Oh, mein Gott." Lachte. "Es ist nicht meiner." Kicherte. "Nicht meine Bahn." Lachte. "Und dann sagt die Frau noch zu mir: 'Nicht Ihr Fuß?! Da habe ich wohl einen Fehler gemacht. Ich nehme Sie wieder in die Wertung.'" Schwarzkopf kicherte: "Horror", und sie wirkte dabei konfus wie jemand unter Schock, der gerade aus einem zerstörten Autowrack gestiegen ist und verwundert feststellt, unversehrt geblieben zu sein. "Ich dachte: Nein, der Wettkampf kann nicht so enden", sagte Schwarzkopf, "das ist mein Wettkampf, der für mich gelaufen ist. Die können mir doch nicht einfach so einen Strich unter die Rechnung setzen. Ich denke, das ist eine schöne Art des britischen Humors. Das ist ein Geschenk der Briten, das ich über den Wettkampf hinaustrage bis zu meinem Lebensende."

Während die Fernsehzuschauer in Deutschland via ARD schon viel früher als die Athleten und Zuschauer im Stadion Bescheid wussten, was überhaupt passiert sein sollte - Fernsehbilder belegten, dass nicht Schwarzkopf nach dem 800-Meter-Start auf die Linie getreten war, sondern die Russin Kristina Sawitskaja −, dämmerte der Deutschen erst auf dem Weg zur Siegerehrung, dass sie wirklich Silber gewonnen hatte. Ein Einspruch der letztlich auf Platz vier zurückgestuften Ukrainerin Ljudmila Josipenko wurde abgewiesen.

Ihr energischer spontaner Protest sagt eine Menge über Lilli Schwarzkopfs Courage aus. Und nach ihrem Happy End sprach die 28-Jährige noch einmal Klartext. Ihr Vater Reinhold, Landestrainer im Rheinland und zugleich ihr persönlicher Trainer und größter Vertrauter, hatte vom Verband keine Akkreditierung erhalten und sie offiziell nicht coachen dürfen. Vertreten wurde er durch den Bundestrainer Wolfgang Kühne - was bei Schwarzkopf auf Unverständnis stieß: "Es gibt keine Vertrauensbasis."

Auf Umwegen hatte Reinhold Schwarzkopf privat eine Eintrittskarte ergattert. Unauffällig tigerte er an den zwei Tagen durch das Olympiastadion, um nicht vom Schiedsrichter verwiesen zu werden, und half seiner Tochter mit Anweisungen, so gut es ging. Zwischendurch telefonierten beide per Handy. "Für mich ist das wichtig. Wenn mein Papa mich anschaut, weiß er, was in mir vorgeht", sagte Schwarzkopf.