Der scheidende Technische Leiter des Hamburger Universum-Stalls über den Mangel an deutschen Stars, ideenlose Übertragungen im ZDF und seinen ehemaligen Chef Wilfried Sauerland. Er sei der charakterloseste Promoter des Business. Björn Jensen sprach mit Nartz.

Abendblatt:

Herr Nartz, Sie werden am 4. Juli in Hamburg nach 31 Jahren als Technischer Leiter aus dem Berufsboxen verabschiedet. Was wird überwiegen: Wehmut oder Stolz?

Jean-Marcel Nartz:

Es wird eine Mischung aus vielem sein: Wehmut, Stolz, Freude und auch ein wenig Erleichterung. Ich habe diesen Schritt gewählt, weil ich mehr Zeit für meine Familie haben will, und weil ich spüre, dass mir vieles schwerer fällt als noch vor ein paar Jahren. Deshalb wird es ein Abschied im Guten.

Abendblatt:

Wie hat sich das Berufsboxen im Lauf der Jahrzehnte aus Ihrer Sicht verändert?

Nartz:

Es ist nicht mehr so familiär. Als ich noch für Wilfried Sauerland tätig war, war das Verhältnis zum Hamburger Universum Boxstall viel besser. Wir haben uns gegenseitig geholfen. Das gibt es heute nicht mehr.

Abendblatt:

Woran liegt das?

Nartz:

Es hat mit den Typen zu tun, die im Boxen Einzug gehalten haben. Da sind Leute gekommen, die sich ins gemachte Nest setzen und mit den Millionen anderer herumspielen. Chris Meyer und Hagen Doering beispielsweise, die bei Sauerland Geschäftsführer und Technischer Leiter sind, hätten das doch selbst niemals aufbauen können. Das haben doch alles Wilfried Sauerland und ich getan.

Abendblatt:

Ihrem Nachfolger bei Universum, Kay Foitschik, könnten Sie ähnliches unterstellen.

Nartz:

Kay und auch unser neuer Geschäftsführer Stefan Braune sind nette Jungs, die ihren Job sehr gut machen. Aber auch sie kamen in einer Zeit, in der Boxen boomte. Die Aufbauarbeit, die positiv Bekloppte wie ein Klaus-Peter Kohl, ein Wilfried Sauerland und auch ich geleistet haben, kennen die nicht.

Abendblatt:

Das können Sie den jungen Leuten nicht vorwerfen.

Nartz:

Aber mir fehlt bei denen ein wenig die Identifikation mit dem Boxen. Ich war als Siebenjähriger bei meiner ersten Veranstaltung. Für mich ist Boxen wie eine Droge. Daran sind zwei Ehen zerbrochen, weil ich meine gesamte Freizeit, jeden Urlaub für diesen Sport investiert habe. Was mich wundert, ist, dass die jungen Leute nicht mehr den Rat der Erfahrenen hören wollen. Sie machen ihr Ding, anstatt zu fragen, wenn sie unsicher sind, weil sie glauben, das sei ein Zeichen von Schwäche. Ich habe meinen Nachfolgern angeboten, ihnen immer mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Aber ich denke, das werden sie nicht annehmen.

Abendblatt:

Wie haben sich die Sportler verändert?

Nartz:

Sie sind selbstständiger geworden, aber auch egoistischer. Viele haben Berater, was es kompliziert macht. Das ist schlecht für den Sport. Das große Vorbild für alle sollte René Weller sein.

Abendblatt:

Wie bitte?

Nartz:

Ja, der hat 1984 für eine EM-Titelverteidigung im Leichtgewicht 100 000 Mark verlangt. Das ist selbst im Vergleich zu heute sehr viel Geld. Sauerland wollte ihm das nicht zahlen, weil er meinte, es nicht refinanzieren zu können. Da hat René zu ihm gesagt: "Gib mir Karten für 100 000 Mark!" Er hat sie bekommen und selbst verkauft. Das finde ich vorbildlich.

Abendblatt:

Fehlen dem Boxen Typen wie Weller, oder ist es gut, dass die Sportler mittlerweile viel seriöser rüberkommen?

Nartz:

Dem Boxen fehlen deutsche Hoffnungsträger, deutsche Idole. Wir haben einfach zu viele Boxer aus dem Osten. Der Westen, da schließe ich die USA, England, Frankreich, Italien mit ein, hat viel an Boden verloren. Darüber mache ich mir große Sorgen.

Abendblatt:

Die sportliche Klasse der Osteuropäer ist aber überzeugend. Muss es nicht darum gehen, guten Sport zu zeigen?

Nartz:

Was nützt der beste Sport, wenn sich das Publikum nicht mit den Sportlern identifiziert? Am 6. Juni in Oberhausen war das wieder zu beobachten. Der Kampf zwischen Denis Boytsov und Taras Bidenko war sportlich der beste des Abends, aber in der Halle waren zwei Drittel der Plätze leer. Das ist ein Problem.

Abendblatt:

Wie löst man es?

Nartz:

Darüber zerbreche ich mir auch den Kopf. Natürlich muss sich in der Nachwuchsarbeit etwas tun. Ich möchte schon wissen, was der deutsche Verband mit den Geldern gemacht hat, die ihm Universum und Sauerland in den vergangenen Jahren überwiesen haben. Wir brauchen Lokalmatadoren, so wie es Axel Schulz, Henry Maske oder auch Sven Ottke waren. Aber die haben wir nicht.

Abendblatt:

Sehen Sie keinen Deutschen, der Potenzial hat?

Nartz:

Das Problem ist, dass die deutschen Weltmeister Felix Sturm und Arthur Abraham nicht als Deutsche angenommen werden. Der einzige Deutsche, der das Potenzial hat, ist für mich Sebastian Zbik. Der hat die Klasse und das Auftreten, um ein Topstar zu werden. Aber das ist zu wenig für ein Land, in dem 30 Boxabende pro Jahr live übertragen werden.

Abendblatt:

Ist nicht auch ein Problem, dass in Deutschland zu viel Boxen im TV gezeigt wird?

Nartz:

Es gibt kein Land, in dem es so viel Boxen live gibt wie hier. Wir werden überfüttert. Ich bin sicher: Es wird nie wieder eine Quote von 19 Millionen Zuschauern geben, wie Axel Schulz sie einst hatte; auch, weil ARD und ZDF zu wenig Ideen haben. Ich halte RTL für den besten Box-Sender. Das Comeback von Vitali Klitschko war die beste Box-Übertragung, die ich je gesehen habe. Die haben sogar den Langweiler Henry Maske zum Star gemacht. Felix Sturm hätte bei RTL acht Millionen Quote und nicht sechs wie beim ZDF.

Abendblatt:

Was bleibt an Positivem aus 31 Jahren am Ring, was bleibt negativ in Erinnerung?

Nartz:

Positiv auf jeden Fall, dass ich wahnsinnig nette Menschen aus vielen Ländern kennen gelernt habe. Überall auf der Welt gewesen zu sein, das verdanke ich dem Boxen. Negativ bleibt, dass ich viele Trittbrettfahrer und Wichtigtuer erleben musste, die sich im Erfolg der Sportler sonnten und diese im Misserfolg fallen ließen. Die Einstellung, dass nur Sieger wertvoll sind, ist ein gesellschaftliches Problem, das im Boxen oft auftaucht. Der beste Sieger ist aber der, der auch verlieren kann. Zudem haben mich Mauscheleien stets maßlos geärgert. Wie zuletzt in Helsinki bei der Absage des Kampfes Valuev gegen Chagaev. So etwas gehört sich nicht, das macht den Sport kaputt.

Abendblatt:

Was war Ihr größter Fehler?

Nartz:

Dass ich nicht das erste Angebot Klaus-Peter Kohls Anfang der 1990er-Jahre angenommen habe, sondern erst das dritte 2002. Ich hätte gleich hingehen sollen, dann gäbe es den Sauerland-Stall heute nicht mehr.

Abendblatt:

Warum sind Sie auf Sauerland so schlecht zu sprechen?

Nartz:

Weil ich ihn für den charakterlosesten Promoter im Business halte. Er sagt bei vielen Dingen heute Hü und morgen Hott. Er hat zum Beispiel immer darüber gelästert, dass Universum aus dem deutschen Kaderboxer Adnan Catic aus Vermarktungsgründen Felix Sturm gemacht hat. Ich fand das auch nie gut. Aber mittlerweile hat Sauerland selbst viele Boxer, die sich umbenannt haben, angeführt von Arthur Abraham. Das finde ich charakterlos. Außerdem: Bei Universum werde ich nach sechseinhalb Jahren ordentlich verabschiedet. Herr Sauerland hat das nach 23 gemeinsamen Jahren nicht geschafft.

Abendblatt:

Bei Ihrer Leidenschaft für den Sport fällt es schwer zu glauben, dass Sie sich einfach aufs Altenteil zurückziehen.

Nartz:

Ich werde weiter Veranstaltungen besuchen und weiter als Funktionär arbeiten. Der Bund Deutscher Berufsboxer will mich als Vizepräsidenten, ich soll in der Europäischen Box-Union tätig werden. Ich habe alle Lizenzen, kann als Zeitnehmer, Punktrichter oder Supervisor arbeiten. Aber ich werde nur noch das tun, wozu ich Lust habe. Und mit 70 soll dann endgültig Schluss sein.