Der Hamburger Radprofi darf bei den Cyclassics angreifen. Als Favorit gilt aber André Greipel, der bei der Tour de France eine Etappe gewann.

Hamburg. Frank Bertling, Geschäftsführer des Sportvermarkters Upsolut, nennt die Vattenfall Cyclassics, das einzige deutsche Weltcup-Radrennen, einen "wirtschaftlichen Erfolg". Alle Sponsoren aus dem Vorjahr konnten gehalten werden, drei neue sind hinzugekommen. Aber an der sportlichen Qualität des 168 Fahrer starken Feldes, das Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz am Sonntag um 11.10 Uhr auf die 216,5 Kilometer lange Strecke schickt, scheiden sich die Geister. "Ein bärenstarkes Feld", sagt Bertling. Das Problem ist aber, dass die Spanien-Rundfahrt, die Vuelta, diesmal parallel zu den Cyclassics läuft. Tyler Farrar, der die letzten beiden Hamburger Rennen gewann, war zwar gemeldet, wird aber fehlen. Der Amerikaner zieht wie die Weltklassesprinter Mark Cavendish, Tom Boonen, Alessandro Petacchi und Oscar Freire sowie die Deutschen Marcel Kittel und John Degenkolb das spanische Etappenrennen vor.

Die Abwesenheit der Stars bietet eine einmalige Chance für André Greipel. Der 29 Jahre alte Rostocker, der für den belgischen Rennstall Omega Pharma-Lotto startet, hat noch eine Scharte auszuwetzen. Der Vorjahresdritte ärgert sich immer noch über einen Fehler beim Zielsprint. Gestern spottete er bei der offiziellen Vorstellung des Rennens in Hamburg: "Die Mönckebergstraße ist immer noch nicht breiter geworden." Immerhin müssen auf den letzten Metern bei Tempo 65 bis 70 km/h in Sekundenbruchteilen Entscheidungen getroffen werden. "Dieses Rennen hat eine eigene Charakteristik", sagt Greipel, "es ist eines der wenigen World-Tour-Rennen, bei denen auch Sprinter eine Siegchance haben." Der erste Etappensieg bei der Tour de France in diesem Jahr sei "ein Ziel meiner Karriere" gewesen, das nächste könnte ein Triumph in Hamburg sein. Greipel deutete an: "Ich hatte zuletzt eine gute Form."

Das behauptet auch Timon Seubert, 24, der einzige Hamburger Radprofi im Feld. Der ungewöhnliche Vorname, der im Griechischen einen "Weisen" oder einen "ehrenwerten Mann" bezeichnet, was ja im Sport schon eine Menge wert ist, könnte aber auch schlicht vom englischen "Timothy" abgeleitet sein, wozu Seubert selbst tendiert. Seit zwei Jahren verdient er sein Geld mit dem Radsport. Am Standort Hamburg geht das allerdings nicht, "wenn man sich weiterentwickeln und ein Großer werden will". Die Ansage des Hamburger Sportsenators Michael Neumann (SPD), Nachwuchs- und Breitensport mit Leistungssport zu verzahnen und dafür schon in die Schulen zu gehen, kommt für Seubert zu spät: "Ich musste mit 13 Jahren in ein Radsport-Internat nach Frankfurt an der Oder."

Angefangen hatte alles auf Mallorca, als der kleine Timon im Familienurlaub zufällig ein deutsches Profiteam trainieren sah und sofort Feuer fing. Jetzt startet der Hamburger für das Team Net-App, das in Kelmis unmittelbar hinter der belgischen Grenze zu Hause ist - und zum ersten Mal bei seinem Heimrennen, sieht man mal von einem Jedermann-Start "nur so aus Spaß" vor sieben Jahren ab. "Der flache Kurs mit dem schweren Finale liegt mir", glaubt Seubert. Sein Team will die Renntaktik erst noch austüfteln, doch glaubt er schon, "dass ich freie Fahrt bekomme". Seit er den Klassiker Paris-Roubaix schadlos überstanden hat und sogar einmal in einer Ausreißergruppe dem Feld davonfuhr, sieht er sich als Spezialist für Eintagesrennen.

Genau die sieht Erik Zabel in Hamburg gefordert. Der frühere Telekom-Fahrer und heutige Cyclassics-Sportdirektor, der seine Karriere vor drei Jahren beendete, rechnet mit "einer größeren Gruppe", die das Rennen unter sich ausmachen werde. "Wenn alles normal läuft, ist André Greipel Favorit."

Wer die Cyclassics-Strecke im Schlaf kennt, könnte im gewohnten Trott ein Problem bekommen. Auf Vorschlag Zabels müssen Profis und Jedermänner (über 100 und 155 Kilometer) die Südschleife der Strecke diesmal in der entgegengesetzten Fahrtrichtung absolvieren. "Wir wollten den Fahrern nach 15 Jahren mal einen neuen Reiz geben", sagte Zabel und wies Warnungen vor neuen Gefahren zurück: "Wer als Jedermann-Fahrer die lang gezogenen Kurven nicht bekommt, hat sein Ziel verfehlt." Die Idee hinter der Routenänderung: Das Feld soll sich früher auseinanderziehen. "Ob das funktioniert, wissen wir erst Sonntagabend."

Die Cyclassics sind zum sechsten Mal "komplett ausgebucht", sagte Vattenfall-Generalbevollmächtigter Pieter Wasmuth. 22 000 Radsportler, darunter 6000 Neulinge, aber auch schon 2346 Mitglieder des sogenannten Cyclubs - die zehnmal das Ziel der Cyclassics erreicht haben - rollen 55, 100 oder 155 Kilometer mit. Zu den Jedermännern zählen Radsportler wie Zabel und Hanka Kupfernagel, die Fernsehmoderatoren Reinhold Beckmann, Ruth Moschner und Marc Bator sowie Musiker Helmut Zerlett. Auch Senator Neumann und Vattenfall-Chef Wasmuth trauen sich. Die Präsenz der Politik soll vermitteln, dass dieser Senat wieder Spaß am Sport hat. Neumann: "Großveranstaltungen wie diese sind - bei aller Kritik - ein Investment in die Sportbegeisterung unserer Stadt."

Das Wichtigste zum Schluss: "Wir werden den gesamten Sommer auf dieses Wochenende legen", versprach Wasmuth. Die Meteorologen geben ihm recht.