Mit Interesse habe ich im Abendblatt das Interview mit Stefan Kretzschmar gelesen. Dass er die deutsche Mannschaft zu den Mitfavoriten bei der Weltmeisterschaft in Schweden zählt, hat mich dann doch überrascht. Ich bin da nicht ganz so optimistisch. Wenn wir das Halbfinale erreichen wollen, muss schon alles optimal laufen.

Das fängt auf den Halbpositionen im Rückraum an. Im rechten muss Holger Glandorf nach einem Horrorjahr in Lemgo und überstandener Meniskusoperation wieder seine überragenden Qualitäten einbringen wie auf der anderen Seite Pascal Hens. Bei unserem Kapitän habe ich zuletzt etwas von jener Dynamik vermisst, mit der er beim HSV auf Torejagd geht. Und: Lässt ihn Bundestrainer Heiner Brand nicht in der Abwehr spielen, wozu er tendiert, beraubt er "Pommes" seiner größten Stärke: dass er nach einem Ballgewinn mit Anlauf auf den gegnerischen Kreis zurennt, hochspringt und aus der zweiten Etage aufs Tor wirft. Dann ist er meist nur noch mit groben Fouls zu stoppen.

Überhaupt sind Gegenstoß und zweite Welle, wenn die Angreifer nach einer Balleroberung mit Schwung gegen eine bereits stehende Deckung anlaufen, die Vorzüge unserer Mannschaft. Im Systemangriff, dem Suchen nach einer Lücke in einer Defensivformation, sind uns Franzosen und Kroaten aufgrund ihrer enormen individuellen Klasse überlegen. Allein Mittelmann Michael "Mimi" Kraus vom HSV ist auf diesem Niveau - wieder - zu Hause; unsere Kreisläufer Sebastian Preiß und Jacob Heinl sind zwar gute Jungs, aber eben nicht Weltklasse wie bei Kroatien ein Igor Vori oder bei den Franzosen ein Bertrand Gille. Handballspiele werden jedoch von Torhütern entschieden. Und da haben wir mit Silvio Heinevetter, Johannes Bitter und Carsten Lichtlein gleich drei überragende. Warum sollten sie nicht eine ähnliche Rolle spielen wie Kiels Thierry Omeyer, der den Franzosen Olympiasieg, WM- und EM-Titel festhielt? Wenn wir eine Medaillenchance haben sollten - dann wegen dieses Trios. Mehr Rück-Halt geht nicht.

In unserer Vorrundengruppe, der schwersten der vier, müssen wir gegen unsere Mitkonkurrenten Spanien und Frankreich mindestens ein Spiel gewinnen, um für die Zwischenrunde die Hoffnung aufs Halbfinale zu erhalten. Dort wird der Olympiazweite Island, gegen den wir in der Vorbereitung zweimal verloren haben, einer der drei Gegner sein. Auch wenn die Weltspitze zusammengerückt ist, viele Spiele mit ein, zwei Toren Differenz entschieden werden, den Titel dürften wieder Franzosen und Kroaten auswerfen; wobei ich die Kroaten dank unserer drei Hamburger Vori, Blazenko Lackovic und Domagoj Duvnjak diesmal den entscheidenden Tick besser einschätze. Verdient hätten sie den WM-Sieg allemal.

Neue taktische Erkenntnisse erwarte ich von dieser WM nicht. Wie soll das auch gehen, wenn die besten Teams der Welt jedes Jahr auf großen Turnieren zusammentreffen? Da bleibt kaum Zeit, Neues einzustudieren. Ohnehin orientieren sich die meisten Nationaltrainer - durch die auch im Internet zu sehenden TV-Übertragungen bei Sport1 - an der Bundesliga. Sie gilt im Bereich der Taktik und Spielzüge als Quelle der Erkenntnis. Wenn Ihnen als Fernsehzuschauer also in den nächsten Wochen das eine oder andere System bekannt vorkommen sollte, wahrscheinlich haben Sie schon mal ein Spiel des HSV gesehen. Auch Heiner Brand hat sich bei unserem Trainer Martin Schwalb bereits bestens bedient.