Unter dem Eindruck des Verdachts gegen Leichtathletik-Weltmeisterin Marta Domínguez beginnt Spanien an seinen Siegern zu zweifeln

Madrid. Ihr Frauenarzt hatte Marta Domínguez strikte Ruhe verordnet. Die Schwangerschaft erweist sich auch im vierten Monat als kompliziert, deshalb sollte Domínguez die nächste Woche im Bett verbringen. Aber die spanische Polizei erkundigte sich nicht bei Domínguez' Frauenarzt. Sie holte die Weltmeisterin im 3000-Meter-Hindernislauf am Donnerstag nach einer Fruchtwasseruntersuchung im Río-Carrión-Krankenhaus von Palencia ab und verhörte sie acht Stunden auf dem Revier. Gegen Domínguez liegt ein Haftbefehl wegen Handels mit Dopingsubstanzen vor. Dass sie diese Mittel selbst nahm, ist die unausgesprochene Anklage.

Für Spanien ist der Fall eine Offenbarung wie für Deutschland die positive Dopingprobe des Olympiasiegers im 5000-Meter-Lauf, Dieter Baumann, vor elf Jahren: Auch die Netten, Charmanten dopen. Marta Domínguez, 35, das blonde Haar beim Laufen mit einem rosa Band gebändigt, die Arme kämpferisch schwingend, war das Symbol der modernen spanischen Frau, die mit Leidenschaft und Zähigkeit alle Hindernisse überwindet. Zweimal wurde sie Europameisterin über 5000 Meter. Als die Beine sie mit dem Alter nicht mehr ganz so schnell trugen, stieg sie 2008 auf die Hindernisdistanz und offenbar auf die schiefe Bahn um. Sie wechselte den Trainer und damit zum Doping, so stellt es jedenfalls ihr alter, versetzter Coach dar: Ihr neuer Trainer César Pérez sei "der Kleindealer" des mutmaßlichen Dopingarztes Eufemiano Fuentes.

Eine komplette Dopingkette wurde bei der Razzia am Donnerstag ausgehoben, 14 Verdächtige wurden verhaftet, von der Athletin über Trainer, Manager, Zwischenhändler bis hin zu jenem Fuentes, der jahrelang die weltbesten Radfahrer wie Jan Ullrich, Ivan Basso oder Alberto Contador mit Stoff versorgt haben soll. Getuschelt wurde in der spanischen Sportszene schon länger, Fuentes sei trotz seiner Enttarnung in der Operación Puerto 2006 längst wieder im lukrativen Doping aktiv. Die Polizei kam ihm im April in abgehörten Telefongesprächen erneut auf die Spur. Die Polizei habe die Verdächtigen monatelang beobachtet und überwacht, berichtete die Presse. Zudem habe der im vorigen Jahr des Dopings überführte Geher Paquillo Fernández wichtige Hinweise geliefert.

Fuentes hatte Spanien ungestört als Doping-Freihandelszone etablieren können, weil die Justiz, Sportverbände und Öffentlichkeit in einer Mischung aus Desinteresse, Komplizentum und Inkompetenz Betrug im Sport duldeten. Eine Aufsteigernation wollte sich den Rausch ihrer vielen Sporterfolge nicht durch schlechte Nachrichten nehmen lassen und machte einfach die Augen zu. Der WM-Titel im Fußball oder der Wimbledon-Sieg Rafael Nadals wurden als leuchtende Beispiele eines "goldenen Zeitalters" gefeiert.

Doch als Spanien am Morgen nach den Verhaftungen erwachte, stellte es fest, dass es ein anderes Land geworden ist. Wo vor zwei, drei Jahren eine überführte Landesheldin noch patriotisch blind verteidigt worden wäre, schrie die größte Sportzeitung "Marca" nun auf Seite eins: "Marta war auch eine Lüge." Und "El País" kam, noch unter dem Eindruck des Skandals um Tour-Sieger Contador, zu dem Urteil: "Das Doping hat einen weiteren Mythos vom Sockel gestoßen." Kein Kollege stellte sich an Domínguez' Seite. "Es war ein offenes Geheimnis, endlich ist es draußen. Viele von uns freuen sich unendlich", sagte stattdessen 5000-Meter-Läufer Jesús España. Als Sportnation wurde Spanien in den jüngsten Jahren erwachsen, nun legt es offenbar auch die unkritisch anhimmelnde Kinderperspektive auf seine Sieger ab. Dank des neuen Dopinggesetzes von 2009 wird der Fuentes-Ring kaum noch davonkommen wie 2006.

Das Erstaunlichste ist, dass der Fuentes-Ring seit den Achtzigerjahren bestand, dem Zeitalter des weltweit ungestörten Dopings. Hauptpartner des Arztes war wohl der Leichtathletiktrainer Manuel Pascua. Zu ihm kam in den Achtzigern sogar über die Grenze des Kalten Krieges hinweg die Tschechoslowakin Jarmila Kratochvilova, deren 800-Meter-Monsterweltrekord wie ein Mahnmal gegen Doping überdauert. Heute betreut Pascua unter anderem die Mittelstrecken-Europameisterin Nuria Fernández. "Biologische Nachsorge" nannten Fuentes und Pascua in den Achtzigern ihr Programm.

Marta Domínguez, das Symbol des weiblichen Spaniens, hätte am gestrigen Freitag in ihrer Stadt als Sportlerin des Jahres geehrt werden sollen. Als ihre Mutter Paquita am Donnerstag ein großes Aufgebot von Reportern vor dem Haus ihrer Tochter sah, ging sie hinüber und fragte die Journalisten freundlich: "Sind Sie alle wegen der Ehrung hier?"

Mit Rücksicht auf ihre Schwangerschaft wurde Domínguez unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt. Der spanische Leichtathletikverband suspendierte sie von ihrem Amt als Vizepräsidentin - "vorsorglich", wie es hieß.