Trotz knapper Vorbereitung starten die deutschen Handballerinnen heute mit großen Zielen in die EM. Ein Erfolg könnte sie aus dem Schatten führen.

Hamburg/Giesen. Die Weihnachtswünsche seiner Mannschaft hat Rainer Osmann jetzt schriftlich. Vor zwei Wochen hatte der Handball-Bundestrainer jede Spielerin aufgefordert, ihr jeweiliges Ziel für die Europameisterschaft in Norwegen und Dänemark zu formulieren. Das Wort Medaille sei öfter zu lesen gewesen, verrät Osmann: "Aber die bringt nicht der Weihnachtsmann, sondern nur harte Arbeit."

Wenn der Thüringer einen EM-Wunsch frei hätte, dann wäre es vielleicht, dass der Frauenhandball in Deutschland nach dem Turnier nicht mehr der gleiche ist wie bisher, nämlich: eine Sportart, die am Rand und jedenfalls deutlich im Schatten des Männerhandballs steht. Sport1 überträgt nicht nur das heutige Auftaktspiel gegen Schweden (17.45 Uhr) live, sondern alle mit deutscher Beteiligung. "Das ist eine große Chance, darüber sollten sich alle im Klaren sein", sagt Osmann, 60. Was die Attraktivität des Spiels angeht, habe er keine Bedenken: "Aber das Wichtigste ist ein sportlicher Erfolg."

Womit wir wieder bei der Medaille wären. Horst Bredemeier, der Vizepräsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB), hat sie offiziell zum Ziel ausgerufen. Bei einer EM allerdings ist sie seit der Turnierpremiere im eigenen Land 1994 (Silber) immer verpasst worden, mal mehr, mal weniger knapp. Den Grund glaubt Osmann zu kennen: "Die Physis ist bei der Dichte des Spielplans besonders gefragt." Der Bundestrainer setzt deshalb kurzfristig auf Rotation und langfristig auf Grundlagenarbeit. Seit August werden an den DHB-Stützpunkten nach neuen Kriterien Athletik und Technik geschult. Gemeinsam mit den Bundesligisten hat Osmann ein Fitnessprogramm entwickelt und Trainingsempfehlungen für die Nationalspielerinnen gegeben.

Auf die Zusammenarbeit mit den Vereinen ist der Bundestrainer angewiesen. Die Nationalmannschaft zieht zwar die meiste Aufmerksamkeit auf sich, muss aber mit vergleichsweise bescheidenen personellen und zeitlichen Ressourcen zurechtkommen. Für die unmittelbare EM-Vorbereitung blieben Osmann nur zehn Trainingseinheiten und vier Testspiele, was wohl eine Zumutung ist für einen, der sich selbst als "Typ der langfristigen und perfekten Planung" bezeichnet. Er sagt: "Normal ist das unmöglich."

In Ungarn und Russland werde beim Terminplan mehr Rücksicht auf die Nationalmannschaft genommen. Rumänien sei besser eingespielt, weil sich die Spielerinnen größtenteils aus zwei Vereinen rekrutierten. Und in den EM-Gastgeberländern werde mehr Geld investiert. So unterhält der Olympiasieger und Titelverteidiger Norwegen ein eigenes Trainingszentrum, fünf Arbeitskräfte sind allein mit Videoanalysen beschäftigt. Osmann steht immerhin ein Stab von sieben Offiziellen zur Verfügung, "exakt wie bei den Männern. Das kann sich sehen lassen."

Den Geschlechtervergleich zieht Osmann gern. Bis zu seinem Amtsantritt im April 2009 habe er wenig Berührungspunkte mit dem Frauenhandball gehabt. Inzwischen ist er "sehr angetan von der Einstellung der Spielerinnen", von denen die meisten nebenbei noch studieren oder einem Beruf nachgehen. Die Spezies des Tagelöhners oder Legionärs, der er bei früheren Stationen in der Männer-Bundesliga oft begegnet ist, sei praktisch unbekannt. Dafür kann Osmann, anders als sein Amtskollege Heiner Brand, darauf vertrauen, dass sich auch Nachwuchsspielerinnen bewähren dürfen in einer Liga, die zwar nicht die stärkste der Welt ist, aber doch ein gehobenes Niveau vorweisen kann. "Einige Talente werden in kürzester Zeit nach oben kommen", verspricht Osmann. Jüngste Entdeckung sei die Leverkusenerin Marlene Zapf, 20, die den Sprung in den EM-Kader nur knapp verpasste.

Am anderen Ende der Altersskala steht Grit Jurack, 33. Nach einer Babypause kehrte die erfolgreichste deutsche Handballerin in die Nationalmannschaft zurück. "Wenn sie aufs Feld kommt, ist sie nie nervös", hat die Buxtehuderin Isabell Klein staunend beobachtet, "mit ihrer Ruhe und Erfahrung kann sie uns helfen." Deshalb hat Klein auch nicht damit gehadert, ihren Lieblingsplatz im rechten Rückraum für Jurack zu räumen und auf den Flügel auszuweichen.

Osmann muss sie nun wieder einfügen in sein Konzept, das viel auf jugendliche Frische setzt. 48 Prozent der deutschen Tore, haben Statistiker ermittelt, resultierten aus Gegenstößen und schneller Mitte, dem sofortigen Wiederanwurf nach einem Gegentreffer. Das Tempospiel nennt Osmann neben der stabilen Abwehr als Grundlage für den Erfolg. Sein Plan ist längerfristig. Zur EM sagt er: "Wenn wir uns im Turnierverlauf steigern können, wäre auch das Halbfinale nicht ausgeschlossen." Der Satz stand bestimmt auf keinem Zettel.