Die Hamburger Hockeyspieler Kristina Reynolds, Rike Sager, Patrick Breitenstein und Jonathan Fröschle diskutieren über ihre Spezialität.

Hamburg. Mehr als die Hälfte aller Tore im Hockey fallen durch Strafecken. Wer seine Standardsituationen in Treffer umzumünzen weiß, hat oft schon gewonnen. Vor der Hallen-Bundesligasaison 2010/11, die an diesem Wochenende beginnt, bat das Abendblatt deshalb drei Eckenspezialisten und eine Nationaltorhüterin aus den vier großen Hamburger Klubs in der Sporthalle Hamburg zu einem "Gespräch um die Ecke".

Abendblatt:

Meine Damen, meine Herren, gibt es die perfekte, unhaltbare Ecke?

Rike Sager:

Ich würde sagen, eine Ecke ist perfekt, wenn sie ins Tor geht. Aber eine Variante, mit der ich immer treffe, habe ich leider nicht.

Patrick Breitenstein:

Man muss da zwischen Halle und Feld unterscheiden. In der Halle kann ein Torwart wegen der geringeren Distanz zum Schützen alles halten. Auf dem Feld kann man sich eher den Torwart ausgucken und ihn dann bezwingen. Meine sicherste Variante ist der harte Schuss durch die Beine des Keepers, den hält kaum einer.

Jonathan Fröschle:

Ich glaube auch, dass es unhaltbare Ecken gibt. Alle Schüsse, die hart und platziert unmittelbar neben den Pfosten treffen, sind für den Torhüter kaum abzuwehren. Eine Mischung aus Härte und Präzision ergibt die perfekte Ecke.

Frau Reynolds, Sie müssen es wissen. Gibts Ecken, die Sie nicht halten können?

Kristina Reynolds:

Nein, ich denke, das gibt es nur bei den Herren, weil dort einfach mit wesentlich höherer Geschwindigkeit geschossen wird.

Die Angst des Torhüters vorm Elfmeter kennen wir aus dem Fußball. Gibt es beim Hockey auch Angst vor der Ecke?

Kristina Reynolds:

Angst nicht, eher eine große Herausforderung. Und der Druck liegt doch beim Schützen. Obwohl ich denke, dass der Schütze den größeren Vorteil hat. Er hat so viele Möglichkeiten, seine Ausführung zu variieren. Letztlich ist es aber immer ein Pokerspiel.

Was braucht ein Torwart, um Ecken zu parieren?

Reynolds:

Wenn man stehen bleibt, was man im Feld eigentlich immer tut, braucht man eine gute Reaktion. Wenn man rausläuft, muss man schnell sein, um den Schuss zu blocken. Und in beiden Fällen muss man lesen können, was der Schütze tut, um richtig zu reagieren.

Was braucht ein guter Eckenschütze?

Sager:

Er muss die Technik beherrschen und vor allem Verantwortung übernehmen wollen. Kraft ist bei den Damen nicht unbedingt notwendig.

Breitenstein:

Bei den Herren schon, da Geschwindigkeit und Härte hier entscheidender sind. Was Rike sagt, ist aber richtig: Man muss mit Druck klarkommen, denn man kann mit guten Ecken Spiele entscheiden.

Fröschle:

Dieser Kick ist immer wieder schön. Man muss der Typ für so etwas sein, das kann man nicht lernen. Ich habe viel Spaß an dieser Verantwortung, denn Toreschießen ist immer noch das Beste, was es im Sport gibt.

Das sagen Sie, obwohl Sie wie Patrick Abwehrspieler sind. Woran liegt es, dass häufig Abwehrspieler Ecken schießen?

Fröschle:

Daran, dass wir meist durchspielen und nicht so oft wechseln wie die Stürmer. Da ist es vielen Trainern lieber, wenn ihr Eckenschütze immer auf dem Feld steht. In der Halle ist das schwieriger, da wird öfter gewechselt. Aber dafür gibt es ja auch mehrere Spieler, die Ecken schießen können.

Wer ist die wichtigste Person bei der Ausführung einer Ecke?

Sager:

Rausgeber, Stopper und Schütze sind gleich wichtig. Wenn eine Ecke zu langsam rausgegeben wird, ist sie vorbei. Wenn sie verstoppt wird, auch. Und wenn ich danebenschieße, auch.

Fröschle:

Ich denke, dass Rausgeber und Stopper wichtiger sind als der Schütze. Der Schütze kann nur seinen gewohnten, vorgeplanten Bewegungsablauf durchziehen, wenn Rausgabe und Stopp perfekt sind.

Breitenstein:

Ich würde zwischen Halle und Feld unterscheiden. In der Halle ist es der Rausgeber, denn je härter der Ball kommt, desto mehr Zeit hat der Schütze, um auf der kurzen Distanz richtig zu zielen. Auf dem Feld ist es der Schütze, weil er letztlich die Entscheidung trifft, welche Variante er wählen will.

Wie viele Varianten haben Sie?

Breitenstein:

In der Halle gibt es eigentlich nur zwei Varianten. Wenn der Torwart stehen bleibt, schieße ich aus der Mitte. Wenn er rausläuft, passe ich nach außen, dann wird von dort geschossen. Im Feld gibt es ein paar mehr Möglichkeiten mit den Ablagen.

Fröschle:

Das ist bei uns auch so, aber am liebsten schieße ich selbst.

Sager:

Bei den Herren wird sowieso viel mehr geschossen, während bei uns häufiger abgelegt wird, um dann vielleicht über einen Stecher erfolgreich zu sein.

Vor jeder Ecke gibt es eine Besprechung unter den Beteiligten, manchmal mischt sich auch der Trainer ein. Wer entscheidet, welche Variante gespielt wird?

Fröschle:

Manchmal hat der Trainer eine Idee, aber grundsätzlich haben wir im Videostudium vor dem Spiel analysiert, wo der gegnerische Torwart Schwächen hat, und uns ein paar Varianten zurechtgelegt. Welche wir spielen, entscheidet dann der Schütze.

Breitenstein:

Bei uns sagt unser Mittelfeldregisseur Moritz Fürste auf Basis der Videoanalyse an, welche Variante wir spielen.

Sager:

Wir entscheiden im Kreis gemeinsam. Es sei denn, der Trainer hat eine bestimmte Variante im Kopf, die in der Situation gerade passt, dann ruft er mich zu sich und sagt mir, was gespielt werden soll.

Haben Sie die Varianten mit Worten benannt oder sind sie durchnummeriert, sodass die Gegner nicht lauschen können, was Sie planen?

Sager:

Es soll Trainer geben, die alle Varianten durchnummeriert und den Spielerinnen die Nummern plus Erläuterung auf den Schläger geklebt haben. So etwas gibt es bei uns aber nicht. Wir haben nur Worte für die Varianten.

Wie häufig trainieren Sie Ecken?

Reynolds:

In jedem Training gibt es zum Abschluss auch Eckentraining.

Sager:

Ich trainiere nach fast jeder Einheit noch gesondert Ecken.

Breitenstein:

Ich schieße pro Woche mindestens 200 Ecken.

Fröschle:

Bei mir sind es in jedem Training zwischen 50 und 80 Ecken, und manchmal gehe ich allein aufs Feld und schieße. Anders lernt man es nicht.

Trainieren Sie immer in derselben Kombination mit festem Rausgeber und Stopper, oder müssen Sie variieren, um im Spiel reagieren zu können, wenn aus der Lieblingskombination einer fehlt?

Fröschle:

Natürlich versucht der Trainer, möglichst viele Kombinationen zu finden, die gemeinsam Erfolg haben, also wird entsprechend trainiert. Aber ich habe meine Lieblingspartner, denn ich brauche einen schnellen Herausgeber und einen sicheren Stopper. Ich sage aber nicht, wer meine Favoriten sind.

Sager:

Ich auch nicht, aber selbstverständlich hat man als Schütze seine Vertrauten, mit denen es am besten klappt. Ich bin immer sehr schnell am Ball und benötige deshalb einen Stopper, der schnell und präzise ist.

Breitenstein:

Mein Lieblingsstopper ist Carlos Nevado, bei ihm kann ich mich immer darauf verlassen, dass der Ball tot ist, wie wir sagen, dass er also völlig bewegungslos liegt. Rausgeber haben wir einige sehr gute. Der beste, mit dem ich gespielt habe, war Jörg Schonhardt, der perfekt in Härte, Schnelligkeit und Präzision war.

Tun Sie als Schützen etwas Besonderes, um sich auf den Schuss vorzubereiten? Immerhin kommt man oft mit Puls 200 zur Ausführung und soll punktgenau zielen wie beim Biathlon. Was gibt es da für Tricks, um die Ruhe zu bewahren?

Breitenstein:

Ich puste vor dem Schuss einmal tief aus und konzentriere mich auf den Abschluss. Alles, was man vorbereiten kann, hat man vorm Spiel in der Videoanalyse getan. Außerdem ist es wichtig, sich Spontaneität zu bewahren, um kurzfristig auf Torhüter und Abwehrspieler reagieren zu können.

Fröschle:

Ich versuche, alles um mich herum auszublenden, indem ich mir immer wieder vorsage: Langsame, ruhige Ausführung! Das hilft mir.

Haben Sie einen Trick, um die Schützen zu verwirren, Frau Reynolds?

Reynolds:

Nein, weil zu so etwas meist keine Zeit bleibt. Ich versuche einfach, so lange wie möglich zu warten, um zu erahnen, was der Schütze tut. Und dann brauche ich Glück.

Gibt es Situationen, in denen Sie es ablehnen, Ecken zu schießen? Wenn Sie sich unsicher fühlen, weil Sie einen schlechten Tag erwischt haben oder Ihre bevorzugten Partner nicht auf dem Feld sind?

Sager:

Das kann schon vorkommen. Der Trainer gibt ja eine Reihenfolge vor, und wenn ich nicht schießen will oder gerade nicht auf dem Feld bin, ist eben die nächste dran.

Breitenstein:

Bei mir kommt das kaum vor. Höchstens wenn ich körperlich so angeschlagen bin, dass es keinen Sinn machen würde, selbst zu schießen, würde ich die Verantwortung abgeben.

Fröschle:

Ich lehne es nie ab, denn ich habe diese Verantwortung übernommen und trage sie gern. Wenn ich mich nicht wohl genug fühle, um selbst zu schießen, dann spiele ich eine Variante.

Zum Abschluss bitte Ihr fachmännisches Urteil: Wer ist derzeit der beste deutsche Eckenschütze, und gibt es einen Torhüter - oder, Frau Reynolds, einen Schützen -, gegen den Sie nur ungern antreten?

Reynolds:

Ich denke, dass Rike die beste Schützin in Deutschland ist, allerdings haben wir bis zum Sommer noch im selben Team gespielt und deshalb noch nie in Punktspielen gegeneinander. Gegen Rebecca Landshut (früher Club an der Alster, derzeit Münchner SC, d. Red.) habe ich mich auch immer schwergetan. Auch Natascha Keller vom Berliner HC ist sehr stark.

Sager:

Wer die besten Ecken schießt, will ich nicht beurteilen. Ich freue mich aber schon, gegen Krissie zu schießen, das ist eine große Herausforderung. Einen Angstgegner habe ich nicht. Wenn man den Schuss perfekt trifft, ist der Torwart egal.

Fröschle:

Wer der beste Schütze ist, kann ich gar nicht sagen, weil jedes Team in der Bundesliga mindestens einen sehr sicheren Schützen hat. Und natürlich gibt es in Deutschland viele starke Keeper, aber ich werde mir nicht einreden, dass es einen gibt, gegen den ich nie treffe.

Breitenstein:

Ob ein Torwart gut Ecken hält, hängt von der Konstellation ab. Ich schieße beispielsweise gern gegen unsere Nationalkeeper, die liegen mir gut. Andere werden mit ihnen dafür mehr Probleme haben. Das ist einfach typbedingt. Der beste Eckenschütze ist Christopher Zeller von Rot-Weiß Köln, weil er Präzision und Härte perfekt vereinigt. Wenn Sie eingangs nach der perfekten Ecke gefragt haben: Zeller kann sie schießen.