Die Tennisspielerin aus Kiel gewinnt in Paris ihren ersten WTA-Titel und belegt in der neuen Weltrangliste heute den 22. Platz

Hamburg. Wer die unglaubliche Entwicklung der Angelique Kerber nachvollziehen möchte, der sollte sich exemplarisch die abgelaufene Woche anschauen. Am vorvergangenen Freitag saß die 24 Jahre alte Kielerin im Stuttgarter Rathaus und war maximal frustriert. Teamchefin Barbara Rittner hatte sie für die Fedcup-Partie gegen Tschechien nicht für die Auftakteinzel berücksichtigt, obwohl sie zum Einstand in die Saison 2012 bei den WTA-Turnieren in Auckland und Hobart das Halbfinale erreicht hatte und bei den Australian Open in Runde drei immerhin an der späteren Finalistin Maria Scharapowa gescheitert war.

Doch während die Kerber früherer Tage an einer solchen Enttäuschung viele Wochen zu knabbern gehabt hätte, zog die neue "Angie", so ihr Rufname, Motivation aus der Ausbootung. Im letzten Einzel bei der 1:4-Schlappe gegen die Tschechinnen holte sie gegen Lucie Hradecka den Ehrenpunkt und war die Gewinnerin des Wochenendes. Dieser Sieg brachte ihr so viel Schwung, dass sie beim anschließenden WTA-Turnier in Paris im Viertelfinale die Russin Scharapowa, Nummer drei der Welt, in zwei Sätzen besiegte. Nach einem Dreisatzkrimi im Halbfinale gegen die Belgierin Yanina Wickmayer vollendete Kerber dann gestern Abend ihren Triumphzug. Im Endspiel besiegte sie Lokalmatadorin Marion Bartoli, Nummer sieben im Weltranking, nach 2:39 Stunden Spielzeit 7:6 (7:3), 5:7 und 6:3 und feierte damit den ersten Titelgewinn auf der WTA-Tour, der höchsten Turnierserie im Damentennis.

Kerber klopft nach ihrem ersten Turniersieg nun ans Tor zu den Top 20 der Tennis-Welt. Die Kielerin verbesserte sich in der Weltrangliste durch ihren Triumph in Paris vom Sonntag um fünf Plätze auf Platz 22. So gut war die 24-Jährige in ihrer Karriere noch nie.

"Ich kann es noch gar nicht glauben, es ist eine riesige Freude", sagte sie. Im zweiten Satz hatte sie 3:0 und 5:2 geführt, ehe Bartoli fünf Spiele in Serie gewann. "Ich war sehr nervös und habe auf einmal angefangen nachzudenken", gab sie zu. "Aber dann habe ich mich zum Glück wieder gefangen." Im dritten Satz reichte eine 4:0-Führung zum Matchgewinn. "Angie hat bewiesen, dass sie eine der besten Defensivspielerinnen der Welt ist. Dass sie in der Lage ist, mehrere Tage auf Weltspitzenniveau mitzuhalten, hätte ich nicht gedacht", sagte Manager Aljoscha Thron, der den Triumph live miterlebt hatte.

Möglich wurde die Leistungsexplosion dank des Überraschungserfolgs bei den US Open im vergangenen September, wo Kerber mit dem Halbfinaleinzug der Durchbruch gelang. Die harte Arbeit an der Tennisakademie in Offenbach am Main unter der Obhut der früheren Daviscupspieler Rainer Schüttler und Alexander Waske hatte sich ausgezahlt, Kerbers körperliche Konstitution war endlich einer Topathletin würdig, und nach Jahren der Selbstzweifel glaubte die Tochter polnischer Eltern an ihre Stärke. "Da hat es Klick gemacht", sagte sie damals. Mit dem Sieg in Paris, der 107 000 Euro wert war, besiegte sie nun ihre letzten Zweifel.

Zeit zum Feiern hatte sie allerdings keine. Bereits rund eineinhalb Stunden nach dem Matchball saß Kerber im Flugzeug nach Doha. Beim dortigen WTA-Turnier soll sie morgen in Runde eins gegen ihre Fedcup-Teamkollegin Sabine Lisicki antreten. Die Berlinerin hatte gegen Tschechien als Topspielerin beide Einzel verloren. Anfang Januar hatte Kerber in Auckland im Viertelfinale von einer verletzungsbedingten Aufgabe Lisickis profitiert. Nun droht das umgekehrte Bild, Kerber erlitt gegen Bartoli kurz vor Schluss eine Bauchmuskelzerrung und droht auszufallen. Dennoch will sie alles versuchen, um ihren Lauf fortzusetzen. Dass sie noch eine Menge Luft nach oben hat, davon ist Angelique Kerber überzeugt. "Für mich", sagte sie gestern, "geht es jetzt doch erst richtig los!"