Nach Eishockey ist ganz Kanada verrückt. Und der Gastgeber der Winterspiele hat ein ganz großes Ziel: den Olympia-Sieg im eigenen Land.

Vancouver. Dass die Olympischen Spiele begonnen haben, kann in Vancouver niemand überhören. Seit zwei Tagen kreisen Hubschrauber über dem Stadtzentrum, das Rattern ihrer Rotoren schwappt bis in die Grünanlagen der Außenbezirke. Mancher Spaziergänger blickt dann erschrocken nach oben, um im nächsten Moment erleichtert seinen Weg fortzusetzen. Keine Frage, die Kanadier haben die Lufthoheit über Vancouver. Die wird ihnen in den nächsten zwei Wochen auch niemand nehmen, viel wichtiger aber wäre es für das 33-Millionen-Volk, das Team Canada besäße auf der Eisfläche des Canada-Hockey-Places ebenfalls diese Souveränität.

Denn darum geht es bei den 21. Olympischen Winterspielen wirklich - um die Goldmedaille im Eishockey. Die übrigen 85 Wettbewerbe betrachten viele hierzulande als Staffage. Wer Deutschland in Zeiten von Welt- und Europameisterschaften für fußballverrückt hält, ahnt nichts von der Leidenschaft der Kanadier für Eishockey. "Go, Canada, Go!" leuchtet es von den Linienbussen in Vancouver, von der Stelle über den Frontscheiben, die zu gewöhnlichen Zeiten die Endstation anzeigt. Jetzt ist die Destination Sehnsucht der 28. Februar - das Finale des olympischen Eishockey-Turniers.

Der Sieg könnte historische Bedeutung erlangen. Seit 1998 die nordamerikanische Eishockey-Liga (NHL) das erste Mal ihren Betrieb für die Olympischen Spiele unterbrach, um den besten Profis der Welt die Teilnahme an Olympia zu ermöglichen, ist die Diskussion unter den Klubbesitzern nicht abgerissen, die diese Konzession für groben Unfug halten. Olympia bringe ihnen nichts, nörgeln sie seit nun schon zwölf Jahren, die Spielpause sei schädlich fürs Geschäft; ganz abgesehen von den Verletzungsrisiken, und den Befürchtungen, mancher ausländische Star würde sich mehr für seine Nationalmannschaft als später für sein Klubteam einsetzen. 2014 in Sotschi, das ist der erklärte Wille, solle endlich Schluss sein mit diesen Zugeständnissen. Und viele der Experten, die im kanadischen Fernsehen seit Tagen enthusiastisch und stundenlang über die Turnieraussichten ihrer Mannschaft diskutieren, glauben, dass es genauso kommen wird.

Das aber ist Eis von morgen. Jetzt geht es um einen kanadischen Traum. Und den soll vor allem Martin Pierre Brodeur festhalten. Der 37-Jährige ist ein Mann kräftiger Statur, 1,88 Meter groß, fast 100 Kilo schwer. Viermal ist er in der NHL mit der Vezina-Trophäe für den besten Torhüter ausgezeichnet worden, dreimal gewann er mit den New Jersey Devils den Stanley-Cup, die Meisterschaft der NHL. "Das alles", sagt er in Vancouver bei der Vorstellung des Teams, "würde ich gern gegen diese Goldmedaille tauschen." Dabei hat er schon eine gewonnen, 2002, als die Kanadier in Salt Lake City im Endspiel die USA 5:2 besiegten und erstmals nach 50 Jahren wieder Olympiasieger wurden. "Dennoch: Was zählt", sagt Brodeur, "ist dieser Sieg vor eigenem Publikum. Es gibt für einen Sportler nichts Schöneres."

Vor sieben Monaten, erzählt er, sei er sich das erste Mal der Dimension dieses olympischen Eishockey-Turniers bewusst geworden. Da spielte Brodeur in der Nähe Torontos ein Charity-Golfturnier, als sich eine Traube Menschen um ihn versammelte und "Go, Canada, Go!" schrie. "Wenn du merkst, welche Bedeutung dieser Olympiasieg für dein Land hat, spürst du plötzlich eine ungeheure Verantwortung. Jedes Spiel wird für uns wie das entscheidende siebte Spiel im Finale des Stanley-Cups", glaubt Brodeur. Am Dienstag (1.30 Uhr MEZ in der Nacht zum Mittwoch) starten die Kanadier gegen Außenseiter Norwegen ins Turnier, das Duell am nächsten Sonntag gegen die USA, obwohl nur ein Vorrundenspiel, elektrisiert bereits seit Tagen die Menschen in Vancouver. Eintrittskarten gibt es nur noch auf dem Schwarzmarkt. Umgerechnet bis zu 500 Euro werden derzeit für ein Ticket geboten.

Warum Eishockey bei den Kanadiern eine derartige Faszination ausübt, hat kürzlich Stephen Harper erklärt. Harper (50) ist Mitglied der Gesellschaft für Internationale Eishockey-Forschung und im Hauptberuf der 22. Ministerpräsident Kanadas. "Eishockey ist ein schneller, aggressiver und im positiven Sinne brutaler Sport. Er spiegelt das Leben in Kanada wider, die Einstellung seiner Menschen und die Geschichte unseres Landes." Das werde manchmal vergessen, sagt Harper, weil viele die Kanadier für friedliebende, um Ausgleich bemühte, angenehme Menschen halten. "Das sind wir auch, doch es ist kein Gegensatz, dass wir auch zäh, zielstrebig und ehrgeizig sind."

Kanada geht als Favorit in dieses olympische Eishockeyturnier. "Keine Frage", sagt Jagomir Jagr, "sie sind zurzeit die Besten." Jagr, 38 Jahre alt, spielte lange in der NHL und kehrte im vergangenen Jahr ins Nationalteam der Tschechen zurück, mit dem er 1998 im japanischen Nagano Olympiasieger geworden war. "Bei einem Turnier dieser Güte reicht es manchmal nicht, der Beste zu sein", warnt Jagr, "du musst auch Glück haben. Eine Strafzeit im falschen Moment, ein abgefälschter Schuss, und schon kann alles vorbei sein." Seit 1998 haben sechs unterschiedliche Mannschaften die drei olympischen Endspiele bestritten. "Diesmal haben wir eine Mission", sagt Torhüter Brodeur, "da interessieren Statistiken nicht."

Kanadas Frauen haben den Männern schon mal die Richtung vorgegeben. Im ersten Gruppenspiel gegen die Slowakei feierten die Titelverteidigerinnen mit 18:0 den höchsten Sieg in einem olympischen Frauen-Eishockeyspiel.