Richmond. Am Tag danach hatte Jenny Wolf ihre Gefühlswelt wieder ein bisschen geordnet: "Ich bin immer noch nicht in Tränen ausgebrochen. Offensichtlich bin ich im Reinen mit mir." Zweite war die schnellste Eisschnellläuferin der Welt im Olympic Oval geworden, nach zwei Läufen über 500 Meter exakt 46 Tausendstelsekunden hinter der bald 21 Jahre alten Südkoreanerin Sang-Hwa Lee. Ein Wimpernschlag nur, aber er versilberte das ersehnte Gold. "In vier Jahren versuche ich es noch einmal", sagte die Berlinerin tapfer. In der Stunde der Enttäuschung klang dieser Satz wie ein Versprechen, das sie vor allem einer Person geben wollte: sich selbst. 2014 in Sotschi wäre Wolf 35 Jahre alt.

Mit der Aufarbeitung der Niederlage hatte die Weltrekordlerin (37,0 Sekunden) und viermalige Weltmeisterin nach dem zweiten Lauf direkt hinter der Ziellinie begonnen. Als sie die Kufen der Südkoreanerin neben sich sah, wusste sie, dass die schnellste Zeit des Tages (37,838 Sekunden) nicht zum Olympiasieg gereicht hatte, nicht, um den Rückstand von 58 Tausendstelsekunden aus dem ersten Rennen wettzumachen. Wolf klatschte beim Auslaufen zweimal kräftig in die Hände. Es mag ihre spontane Art der Vergangenheitsbewältigung gewesen sein, ein aufmunterndes, hörbares Stoppzeichen, sich keinen trüben Gedanken hinzugeben. "Ich habe Gold verloren, aber Silber gewonnen", sollte sie später sagen. Den Zwiespalt ihrer Gefühle hätte sie kaum besser ausdrücken können.

"38,307 Sekunden sind für sie eine indiskutable Zeit", sagte ihr Trainer Thomas Schubert, "im ersten Lauf hat sie die Goldmedaille liegen gelassen." Um das Puzzle zu verstehen, das Jenny Wolf hinterher als Erklärung zusammensetzte, muss man auf ihre Karriere als Eisschnellläuferin blicken. Vancouver sind Wolfs dritte Olympische Spiele, nach Platz zehn 2002 und Rang sechs 2006 trug sie erstmals die Bürde der Favoritin. Sechs von acht Weltcups hatte sie in dieser Saison über 500 Meter gewonnen. Sie glaubte deshalb mit dieser Situation umgehen zu können, sie hoffte, auf alles vorbereitet zu sein, sie, der Kopfmensch. Was ihr fehlte, war Erfahrung. Erfahrung im Umgang mit dem Unvorhersehbaren. Das hatte sie unterschätzt - aus Unerfahrenheit.

Der Wettkampf lief nicht so, wie sie ihn erwartet hatte. Beixing Wang, die Chinesin, die ihre größte Konkurrentin hätte sein sollen und am Ende Dritte wurde, legte mit 38,487 Sekunden eine überraschend schwache Zeit vor. Sie bewirkte bei Wolf Fatales, ein Aufatmen, einen Abfall der Anspannung. Als danach, nach dem Sturz der Niederländerin Annette Gerritsen, die Rennen für ein paar Minuten zur Eisaufbereitung unterbrochen werden mussten, hatte sie erneut Mühe, ihre Konzentration hochzuhalten. "Und dann kam in meinem Lauf der Fehlstart der Koreanerin dazu. Der nächste hätte zur Disqualifikation geführt, egal wer ihn macht. Letztlich war ich mental nicht stark genug, um das alles zu bewältigen", sagte Wolf. Die Verkettung dieser Umstände hatte Folgen. Jenny Wolf trat nicht mehr mit jener unbändigen Aggressivität ins Eis, die nötig ist im Kampf um Tausendstelsekunden.

Heute wird Jenny Wolf noch einmal antreten, über 1000 Meter; nicht, weil sie sich eine gute Platzierung ausrechnet, "ich will einfach nur diese tolle Stimmung in der Halle genießen". Oliver Lotze (31), ihr Freund, wird dann wieder auf der Tribüne stehen und sie anfeuern. Es ist vielleicht das letzte Rennen der Jenny Wolf. Künftig könnte sie Lotze heißen. Nach Olympia soll geheiratet werden. Die Ringe liegen beim Juwelier - es sind goldene.