Der 23-Jährige über seinen Wechsel zum HSV, seine Beziehung zu Carolin Nytra und den Wundersprung von Turin.

Hamburg. Dass der HSV einen neuen Star hat, scheint sich im Vereinsrestaurant "Raute" noch nicht herumgesprochen haben. Kaum ein Gast nimmt Notiz von Weitspringer Sebastian Bayer. Nur Leichtathletik-Abteilungsleiter Oliver Voigt, der ihn zum Termin begleitet, wird im Minutentakt gegrüßt. Gut so, dann kann sich Bayer auf das Interview konzentrieren.

Hamburger Abendblatt:

Herr Bayer, können Sie sich in Ihrem Wohnort Bremen überhaupt noch blicken lassen?

Sebastian Bayer:

Ich glaube schon. Einige sehen es sicher nicht so gern, dass ich zum HSV gewechselt bin. Aber ich glaube, ich habe in Bremen einen guten Job gemacht. Viele haben auch Verständnis gezeigt für meine Entscheidung.

Abendblatt:

Warum?

Bayer:

Weil sie wissen, dass ich meinen Sport vielleicht noch zehn Jahre ausüben kann. Da muss man schon an die Zukunft denken. Ich werde hier noch enger mit meinem Bundestrainer Uwe Florczak zusammenarbeiten. Was hinzukommt: Der HSV ist im Gegensatz zum Bremer Leichtathletik-Team ein Großverein mit einem spannenden Umfeld und perfekten, auf den Profisport ausgerichteten Rahmenbedingungen. Ich empfinde es als Ehre, für so einen Verein zu starten.

Abendblatt:

Sie haben die Optojump-Messanlage nicht erwähnt, die in Kürze in Hamburgs Leichtathletikhalle installiert wird.

Bayer:

Da sprechen Sie jetzt den Falschen an, denn ich bin überhaupt kein Freund der Biomechanik. Es ist mal interessant zu sehen, wie man sich über die Jahre entwickelt, aber ich bin eher ein Gefühlsspringer. Für die Trainer ist die wissenschaftliche Auswertung sicherlich sehr hilfreich, um das Training noch gezielter zu steuern. Aber ich mache viel aus dem Gefühl heraus und versuche, es so einfach wie möglich zu halten. Ich trainiere 340 Tage im Jahr dafür, dass ich beim Wettkampf schlichtweg anlaufe und abspringe.

Abendblatt:

Ist diese Natürlichkeit die Erklärung für den Leistungssprung, den Sie in diesem Jahr gemacht haben?

Bayer:

Vieles hat in diesem Jahr zusammengepasst. Dass ich erstmals ohne Erkrankung durch den Winter gekommen bin, ist sicher der Hauptgrund.

Abendblatt:

Wie überrascht waren Sie von ihren 8,71 Metern bei den Halleneuropameisterschaften im März in Turin?

Bayer:

Hm, so ziemlich. Ich habe schon zuvor bei den Wettkämpfen gemerkt, dass ich immer schneller wurde und vieles einfacher. Bei den deutschen Meisterschaften bin ich 8,13 Meter gesprungen, eine Woche später 8,17. Mit angezogener Handbremse, wie die Auswertung später ergab.

Abendblatt:

Aber mit Verlaub: 8,71 sind eine andere Welt. Haben Sie Verständnis für die Zweifler, die einen Messfehler unterstellten?

Bayer:

Durchaus. Ich wüsste auch nicht, wie ich reagieren würde, wenn jemand anderem eine derartige Leistungssteigerung gelingt. Aber irgendwann müssen diese Zweifel auch aufhören.

Abendblatt:

Hatten Sie im Gefühl, wie weit der Sprung war?

Bayer:

Nein, denn ich war ja noch nie so weit gesprungen. Was ich gemerkt habe, war, dass der Flug länger dauerte. Mit 8,40 Metern hatte ich schon gerechnet, mit 8,71 nicht.

Abendblatt:

Hätten Sie vorher gedacht, dass man diese Weite sauber springen kann?

Bayer:

Nein. Natürlich gibt es jetzt auch diese Zweifler. Aber ich hatte dieses Jahr bestimmt 20 Dopingkontrollen.

Abendblatt:

Ist die Leichtathletik sauberer geworden?

Bayer:

Generell schon. Aber das Thema Doping wird den Leistungssport immer begleiten. Ich kann nur betonen, dass ich so offen und energisch wie möglich dagegen vorgehe. Auch wenn es mitunter sehr anstrengend ist, meinen Aufenthaltsort stündlich angeben zu müssen. Manchmal vergesse ich das schlichtweg, wenn wir zum Beispiel mal spontan ins Kino gehen. Wenn dann ein Kontrolleur vor der Tür steht, droht mir schon eine Sperre. Das wird in anderen Ländern nicht so restriktiv gehandhabt. Da wir als Athleten ohnehin schon gläsern sind, sollen sie uns doch eine Uhr oder ein iPhone schenken, das den Kontrolleuren jede Minute unseren Aufenthaltsort verrät. Das finde ich praktikabler als die jetzige Lösung.

Abendblatt:

Glauben Sie, dass bei der WM in Berlin alles mit rechten Dingen zuging?

Bayer:

Sagen wir es so: Grundsätzlich habe ich zu meinen Konkurrenten Vertrauen. Das sind alles Supertypen. Einigen ihrer Betreuer und Berater im Hintergrund traue ich aber nicht über den Weg. Mit denen würde ich nicht zusammenarbeiten wollen.

Abendblatt:

Ein Traumsprung kann zum Trauma werden, wie es Bob Beamon nach seinem 8,90-Meter-Sprung 1968 erlebte...

Bayer:

Ich habe bei den deutschen Meisterschaften im Juli dieses Jahres 8,49 Meter nachgelegt. Da haben viele Fragen aufgehört. Ich habe sie mir ja auch gestellt, zumal nachdem ich einen bescheidenen Saisoneinstieg hatte. Aber letztlich weiß ich, was ich kann.

Abendblatt:

Auch neun Meter? Ihre Trainer sagen, Sie haben das Potenzial dazu.

Bayer:

Schauen wir mal. Wenn alles perfekt läuft, ich zwei Jahre ohne Wehwehchen trainieren kann, Rückenwind habe und eine perfekte Anlage ... Aber eigentlich will ich mich nicht mit dieser Marke aufhalten. Mein Ziel ist erst mal der deutsche Rekord.

Abendblatt:

Im Sommer hatten Sie aber eine Verletzung im Sprunggelenk, die Sie bei der WM behindert hat. Wie groß ist die Beanspruchung eines Weitspringers?

Bayer:

Es heißt, dass beim Absprung das Zehn- bis 15-Fache des Körpergewichts auf den Körper wirkt, häufig sogar mehr als eine Tonne.

Abendblatt:

Wie viele Sprünge pro Saison geht das gut?

Bayer:

Das hängt vom Typ ab. Es gibt Weitspringer mit einem Eisenfuß, die auch zwei Wettkämpfe pro Woche verkraften. Mir reichen aufgrund meiner Begabung weniger Sprünge, auch im Training. In diesem Jahr hatte ich vielleicht zehn Technikeinheiten.

Abendblatt:

Dass Sie auf die Hallensaison verzichten, hatten Sie bereits im August nach der WM entschieden. Wie stark wirkt die verpasste Finalqualifikation in Berlin noch nach?

Bayer:

Am meisten wurmt mich, dass ich überhaupt angetreten bin. Die Qualen hätte ich mir gern erspart. Ich kann aufgrund meines Talents zwar ein gewisses Niveau halten. Aber wenn man vor einem Wettkampf drei Wochen nichts trainieren kann, was mit Weitsprung zu tun hat, kann es nichts werden. Allerdings muss man auch sehen, dass der zweite Versuch an die 8,20 Meter war, nur leider leicht übergetreten.

Abendblatt:

Hat die WM wenigstens der deutschen Leichtathletik insgesamt gutgetan?

Bayer:

Definitiv. Wir belegen in Europa viele Spitzenplätze. Ich hoffe, dass sich der Aufschwung bei der EM fortsetzt. Trotzdem bleibt es in der Wirtschaftskrise schwierig, mit der Leichtathletik Geld zu verdienen. Umso wichtiger war es für mich, vom HSV einen Dreijahresvertrag zu bekommen. Das gibt mir bis London 2012 Planungssicherheit. Mit dem HSV und meinem Sponsor Herbalife habe ich starke Partner. Aber es gibt noch Spielraum noch oben.

Abendblatt:

Ihre Beziehung zur Hürdensprinterin Carolin Nytra zu vermarkten kommt Ihnen nicht in den Sinn?

Bayer:

Wenn es einen Partner gäbe, hinter dem wir beide stehen, könnte ich mir das schon sehr gut vorstellen. Aber den sehe ich derzeit nicht.

Abendblatt:

Wurde das Traumpaar-Dasein mitunter zur Last?

Bayer:

Ich stehe zu Caro und habe prinzipiell kein Problem, darüber zu sprechen. Aber wenn ich gefragt werde, was wir die Nacht vor dem Wettkampf machen, geht das einfach zu weit. Vor der WM wurde uns das zu viel. Zum Traumpaar haben uns übrigens nur die Medien gemacht. Ich habe Caro bei den deutschen Meisterschaften nicht geküsst, um in die Zeitung zu kommen, sondern weil ich mich von Herzen über Ihre Leistung gefreut habe. Ich wüsste nicht, was daran verkitscht sein soll.

Abendblatt:

Ist es nicht normal, dass sich die Medien darauf gestürzt haben?

Bayer:

Es ist ja auch schön zu sehen, dass unsere Leistungen und die spontane Freude auch die Allgemeinheit begeistert. Manches Mal würde ich mir jedoch wünschen, dass man auch in schwierigen Zeiten etwas mehr Verständnis erfährt oder objektiver berichtet wird. Als ich nach einer Mittelohrentzündung einen schweren Start in die Saison hatte, wurde ich als Versager dargestellt - und zwar von denen, die vorher am dreistesten in die Intimsphäre eingedrungen sind.

Abendblatt:

Warum haben Sie Ihre Freundin eigentlich nicht gleich mit zum HSV gebracht? Immerhin ist Hamburg ihre Geburtsstadt.

Bayer:

Weil sie in Bremen mit Jens Ellrott den richtigen Trainer hat. Der Zeitpunkt wäre nicht der richtige gewesen.

Abendblatt:

Muss ein Weitspringer auf seine Ernährung achten?

Bayer:

Natürlich. In der Wettkampfphase ganz besonders. Die Mahlzeiten müssen ein ausgewogenes Verhältnis aus Kohlenhydraten, Fetten und Eiweiß haben. Inzwischen kann ich ganz gut abschätzen, wie viel wo drin ist. Jedes Kilo mehr muss ich ja mitschleppen.

Abendblatt:

Wie viele waren es in Turin?

Bayer:

75 oder 76, aber das war hart an der unteren Grenze. Das Essen im Hotel war so schlecht, dass ich wenig zu mir genommen habe. Außerhalb der Wettkampfzeit muss ich aber auf nichts verzichten - außer auf Alkohol.

Abendblatt:

Abschließend ein kleiner Einbürgerungstest: Kennen Sie die HSV-Hymne schon?

Bayer:

Natürlich, ich bin ja mit einer Hamburgerin liiert. Vor zwei Wochen hat Caro sie mir wieder vorgespielt. Da habe ich mirgerade die Zähne geputzt.