Die Leichtathletik-Fans waren von der WM begeistert, andere beklagten die schlechte Vermarktung des Events.

Berlin. Die 12. Leichtathletikweltmeisterschaften sind Geschichte. Eine Erfolgsgeschichte: Mit neun Medaillen hat das Team des Gastgebers die Erwartungen, ja sogar die Hoffnungen übertroffen. Wie viel Rückenwind kann die wichtigste olympische Sportart mitnehmen? Ein Streifzug.

9. Juli, 11 Uhr. Die WM-Roadshow macht in Dresden Station. Die Roadshow ist ein Lkw, der durch 60 deutsche Städte rollt, um für das Sportereignis des Jahres zu werben. Auf dem Programm stehen Gewinnspiele, Aktionen und Raúl Spank. Der Olympiafünfte im Hochsprung ist Dresdens prominentester Leichtathlet, eines von 17 "WM-Gesichtern". Später erzählt Spank seinem Hamburger Manager Werner Köster, dass er bei der Roadshow Karten für die WM gewonnen habe. Als Köster verdutzt nachfragt, klärt Spank ihn auf: "Außer mir war ja gar keiner da."

15. August, 17 Uhr. Der erste Wettkampftag. Der Hamburger Athletenmanager Frank Thaleiser ist im Olympiastadion. Auch Bekannte von ihm haben Karten gekauft. Sie können die Eröffnungsfeier kaum erwarten. Thaleiser weist vorsichtig darauf hin, dass eine WM nicht Olympia und entsprechend kein Pomp à la Peking zu erwarten sei. Doch der Berliner Minimalismus überrascht auch ihn: Eine Sängerin intoniert die Nationalhymne, ein Dutzend Breakdancer wirbelt auf einer Bühne, und 202 Helfer tragen 202 Fahnen ins Stadion. Das war's. Die Inszenierung lässt zwei Deutungen zu. Die eine: Sie sollte nicht vom Sport ablenken. Gelungen. Die zweite: Man wollte einen Rekord aufstellen und mit der schlechtesten Eröffnungsfeier aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Auch gelungen.

16. August, 12 Uhr. Am Brandenburger Tor fällt der Startschuss zum 20-Kilometer-Gehen der Frauen. Es herrscht Volksfeststimmung. 90 000 Menschen stehen Unter den Linden und machen den Athletinnen lautstark Beine. Es ist die beste Kulisse, die die Geher je gehabt haben. "Das muss die Zukunft sein", schwärmt Clemens Prokop, Chef des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) und des Organisationskomitees. Man habe bewusst diesen historischen Ort gewählt, "weil der Sport in der Lage ist, Mauern niederzureißen". Auch Bürgermeister Klaus Wowereit lässt sich die Party nicht entgehen. Ihn begleitet der Münchner OB Christian Ude. Er will für Winterspiele in seiner Stadt werben. Die Delegation des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zeigt sich angetan. Man habe sich als "sympathische und sportbegeisterte Gastgeber" präsentieren können, sagt IOC-Vizepräsident Thomas Bach.

16. August, 21.45 Uhr. Wie recht Prokop mit seinem Mauervergleich hat, wird am Abend des 100-Meter-Finales deutlich. Usain Bolt hält die Zeit bei 9,58 Sekunden an, kein Mensch war je annähernd so schnell. Später wird der Jamaikaner erzählen, dass er nicht in Bestform sei. Ein Pressevertreter will wissen, ob er sich vorstellen könne, einmal auf einer Aschenbahn zu rennen, wie einst Armin Hary. "Wer?", fragt Bolt. Als er aufsteht, stürzen die Reporter nach vorn, um Erinnerungsfotos zu schießen. Auch der Journalismus kennt an diesem Abend keine Grenzen.

17. August, 18.05 Uhr. Am dritten Wettkampftag ist das Olympiastadion wieder nur halb voll. "Es gibt zu viele Konkurrenzveranstaltungen in Berlin", klagt der langjährige DLV-Chef Helmut Digel. Es entzündet sich eine Debatte um Rabatte. Das Organisationskomitee lehnt sie ab. Die echten Leichtathletikfans sind alle da. Leichtathletikfans tragen keine Fanschals, sondern Funktionsshirts. Sie ziehen keine Bierdosen aus ihren Rucksäcken, sondern Plastikpfandflaschen mit stillem Wasser. Sie singen keine Schmählieder gegen Auswärtige, sondern Geburtstagsständchen für jamaikanische Außerirdische. "Die anderen Nationen kommen auf uns zu und sagen: Die Stimmung ist doch toll", sagt DLV-Sportdirektor Jürgen Mallow. An den letzten vier WM-Tagen wird nicht mehr diskutiert. Das Stadion ist nun gut gefüllt, am Sonnabend sogar ausverkauft. Vielleicht wissen die Berliner inzwischen, dass WM ist.

19. August, 21.23 Uhr. Robert Harting schleudert seinen Diskus im letzten Versuch auf die Weltmeisterweite von 69,43 Meter und bringt das graue Gemäuer zum Beben. Hätte er am Morgen Zeitung gelesen, wäre er an zwei Schlagzeilen hängen geblieben: "Harting sorgt mit Angriffen gegen Dopingopfer für Eklat" und "Thomas Wessinghage will Werfer streichen". Der frühere 5000-Meter-Europameister findet Hartings Disziplin langweilig. Auch Vermarkter Köster hält die Werfer für schwer vermittelbar. Er würde zudem diverse Laufstrecken auf die Streichliste setzen: "Man sollte das Gut verknappen."

19. August, 22.21 Uhr. Der Platz der 800-Meter-Siegerin bei der Pressekonferenz bleibt leer. Er gehört Caster Semenya. "Sie ist nicht vorbereitet auf so eine Situation", erklärt Pierre Weiss, Generalsekretär des Weltverbands IAAF. Semenya war mit riesigem Vorsprung als Erste durchs Ziel gejoggt. Die 18 Jahre alte Südafrikanerin war bis vor Kurzem nahezu unbekannt. Hätte sie sich verausgabt, hätte sie wohl den 26 Jahre alten Weltrekord von Jarmila Kratochvilova gebrochen. Kratochvilova sah aus wie ein Mann. Auch Semenya sieht aus wie ein Mann. Die IAAF ordnet einen Geschlechtstest an. Südafrika wittert Rassismus und will die Uno-Menschenrechtskommission anrufen. XY bleibt vorerst ungelöst: Die Chromosomenbestimmung könne Wochen dauern, sagt Weiss.

20. August, 20.19 Uhr. Melaine Walker gewinnt die 400 Meter Hürden. Ihre Siegerzeit ist die zweitschnellste der Geschichte. Die Jamaikanerin ist 26 und trägt Zahnspange. Zahnspangen mit 26 gelten als Indiz auf Wachstumshormone. 2008 hatte Walker einen erstaunlichen Leistungssprung vollzogen und war zum Olympiasieg gestürmt. Ihre Dopingprobe in Berlin ist wie die aller Medaillengewinner negativ. DLV-Sportdirektor Mallow sagt: "Die Jamaikaner haben das Sprint-Gen. Die Amerikaner haben das Collegesystem. Und die Russen haben auch irgendwas."

21. August, 11.01 Uhr. In der DLV-Zentrale geht ein Fax des Bundesinnenministeriums ein mit der Aufforderung, die Ergebnisse für vier Olympiastützpunkte zur Prüfung vorzulegen. 850 000 Euro öffentlichen Zuschuss erhält die Leichtathletik in Deutschland. Rechne man den Kaufkraftverlust ein, hätten sich die Mittel seit 1991 halbiert, klagt Mallow. Er hat nach Olympia 2004 die Strukturen im DLV umgebaut: Es gebe jetzt mehr und bessere Trainer, ein besseres Gesundheitsmanagement, und in den Disziplinen wurde die Verantwortung an die Heimtrainer delegiert. Mallow: "Der Neuaufbau ist im hohen Maße erreicht."

21. August, 21.27 Uhr. Spank steht als Bronzemedaillengewinner im Hochsprung fest. Er verkörpert, was der Sportsoziologe und DLV-Vize Eike Emrich den "agonalen Gedanken aus Homers Ilias" nennen wird. Spank hat sich in Peking gewundert, dass einige zufrieden waren, dabei zu sein. Er sagt: "Ich will der beste Springer werden, den es in Deutschland jemals gab. Dafür stehe ich jeden Tag sehr früh auf."

23. August, 9.00 Uhr. Prokops Stimme krächzt, als er seine WM-Bilanz zieht. Der DLV-Chef räuspert sich, dann sagt er, dass es eigentlich nur Gewinner gebe: "Wir wollten der Leichtathletik neuen Schwung geben, das ist gelungen. Die Mannschaft hat sich erfolgreich geschlagen. Die TV-Einschaltquote war sensationell. Die WM war ein bedeutender Marketingfaktor für Berlin."

23. August, 13.11 Uhr. Anruf bei der Schwester. Sie lebt in Berlin, Prenzlauer Berg. "Wie, du bist in der Stadt?" Ja, wegen der Leichtathletik-WM. "Ach ja, ich hörte davon. Aber bei der Fußball-WM war 2006 mehr los."