Über die 100 Meter rennt am Sonntag auch wieder der Dopingverdacht mit.

Osaka. Biografen lecken sich nach diesem Stoff die Finger. Egal, welcher der beiden Hauptdarsteller im Kampf um die Sprinterkrone der Leichtathletik-WM in Osaka triumphieren wird, das 100-Meter-Finale am Sonntag liefert eine Geschichte mit Bestseller-Qualitäten. Auf der einen Seite steht Weltrekordler Asafa Powell (24) aus Jamaika, der in den vergangenen Jahren zwei seiner Brüder auf tragische Weise verlor. Auf der anderen Seite lauert Herausforderer Tyson Gay (25) aus den USA, dessen Trainer seit einigen Monaten im Gefängnis sitzt, weil er jungen Sportlern auf illegale Weise Stipendien verschaffte.

Doch die Dramatik des Showdowns am Sonntagabend (22.20 Uhr Ortszeit/15.20 Uhr MESZ, ARD live) stützt sich keineswegs nur auf private Hintergründe, sondern vor allem auf sportliche Komponenten. Beide Läufer können und wollen Weltrekord laufen. "Die Bahn ist sehr schnell. Ich gehe davon aus, dass der Rekord fallen kann", sagte Tyson Gay nach dem ersten Training in Japan. Und natürlich will er es sein, der hoch oben vom Treppchen mit einer Zeit möglichst unter jenen 9,77 Sekunden winkt, die Asafa Powell bereits dreimal in seinem Leben gerannt ist und ihm jenes Prestige beschert, das Ruhm und sehr viel Geld einbringt: der schnellste Mann der Welt zu sein.

Und natürlich stellt sich auch die Fragen aller derzeitigen (Sport-)Fragen: Wie sauber ist dieses Duell? Der 100-Meter-Sprint gehört zu den verseuchtesten Disziplinen der Leichtathletik. Die acht Endlaufteilnehmer bei Weltmeisterschaften oder im Olympischen Spielen waren nie über jeden Verdacht erhaben, bei den meisten fanden sich im Nachhinein Beweise oder Indizien für einen Drogenkonsum. Erst im vergangenen Jahr war Olympiasieger, Titelverteidiger und Mit-Weltrekordler Justin Gatlin (25; USA) des Dopings mit Testosteron überführt worden. Er wurde für acht Jahre bis 2014 gesperrt, weil er die Hintermänner benannte und bereit war, gegen seinen Trainer Trevor Graham auszusagen. Ursprünglich sollte Gatlin lebenslang aus dem Sportverkehr gezogen werden.

Asafa Powell behauptet dagegen beharrlich, nur mit natürlichen Mitteln der Zeit davonzulaufen. "Und wenn die äußeren Bedingungen stimmen, es zwar heiß, aber das Wetter nicht so schwül wie zuletzt ist, sollte der Weltrekord in Osaka drin sein", glaubt auch Powell. Er hatte seinen Widersacher im vergangenen Jahr gleich fünfmal bezwungen. Der psychologische Vorteil müsste damit auf Seiten des Karibik-Sprinters liegen. Doch Gay hält seinerseits gute Trümpfe. Er führt mit 9,84 Sekunden die Jahresweltbestenliste an und knackte sogar im Juni in New York den Rekord. Seine 9,76 Sekunden erhielten jedoch zu viel Windunterstützung, weshalb sie nicht in die Annalen eingingen.

Angesichts des Potenzials der Kontrahenten scheint es wie ein schlechter Witz, dass beide bislang noch keine Medaillen bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen abgeräumt haben. Ein Scheitern in Osaka an den eigenen Nerven ziehen beide allerdings genau so wenig in Erwägung wie die Möglichkeit eines lachenden Dritten im Nagai-Stadion - wie zum Beispiel des selbstbewussten Derrick Atkins von den Bahamas. Dennoch treten beide Athleten keineswegs als überhebliche Lautsprecher auf. Im Gegenteil.

Powell sagt über sich selbst, er sei bescheiden, schüchtern und hielte sich aus jeglichem Ärger heraus. Einige Schicksalsschläge dürften den 24-Jährigen geprägt haben und bewegen nicht nur seine Fans. Vor fast 20 Jahren wurde sein Vater erschossen, 2002 auch sein Bruder, 2003 starb ein weiterer seiner insgesamt fünf Brüder beim Footballspielen an Herzversagen. Kraft, sagt er, schöpfe er aus seinem Glauben: "Vor jedem Rennen sage ich mir, ich kann alles schaffen, weil Gott mir hilft."

Auch Tyson Gay kommt vergleichsweise bodenständig daher und konkurriert keineswegs mit seinen Landsleuten Maurice Green oder dem des Doping überführten Tim Montgomery, die sich als ehemalige Weltrekordler bei jedem Auftritt hollywoodreif in Szene setzten. Seit sein Trainer Lance Brauman hinter Gittern sitzt, ist er immer schneller geworden; auch über die 200 Meter, die er im Juni in 19,62 Sekunden zurücklegte und damit Rang zwei in der ewigen Bestenliste hinter seinem Landsmann Michael Johnson (19,32) erklomm.

"Seit Lance im Gefängnis ist, bin ich noch viel fleißiger im Training. Ich renne quasi für ihn mit", sagt Gay. Einmal in der Woche darf das Gespann miteinander telefonieren. "Seine Tipps", sagt Gay, "sind immer noch sehr, sehr wichtig für mich."