Jan Ullrich: Ständiges Übergewicht, Discos, Alkohol, Fahrerflucht, kaputtes Knie und nun auch noch Doping-Verdacht. Ist das deutsche Rad-Idol am Ende?

Hamburg. In der Nacht zum 1. Mai dieses Jahres rammte ein Porsche mit qualmenden Reifen einen vollen Fahrradständer vor dem Freiburger Hauptbahnhof. Der fatale Crash entbehrte nicht einer gewissen Ironie: Als Fahrer der schwäbischen Edelkarosse entpuppte sich später ein Mann, der in Deutschland quasi als Chefradler der Nation gilt: Jan Ullrich. Für übertriebene Heiterkeitsausbrüche bestand unterdessen kein Anlass. Denn das Grand Malheur offenbarte die innere Zerrissenheit jenes Mannes, der das ganze Land im Juli 1997 in einen kollektiven Freudenrausch versetzt hatte: Als erster Deutscher überhaupt gewann Jan Ullrich die Tour de France, das legendärste Radrennen der Welt. Doch der historische Triumph im vergleichsweise zarten Radsportalter von 23 Jahren sollte sich in der Folge als schier erdrückende Hypothek erweisen. Denn jeder neue Anlauf, den grandiosen Erfolg noch einmal zu wiederholen, endete in bitteren Niederlagen. Oft genug trug Jan Ullrich, der 1993 in Oslo mit 20 Jahren bereits jüngster Amateur-Straßenweltmeister wurde, selbst die Schuld daran. Mit schöner Regelmäßigkeit hemmten im Frühjahr überflüssige Pfunde auf Grund unbedachter Völlerei seinen Tatendrang. Pausbäckig und mit nicht zu übersehenden Hüftröllchen musste er sich als rollender Klops belächeln lassen. Nicht nur sein ärgster Tour-Rivale Lance Armstrong warf ihm mehr als einmal einen "unprofessionellen Lebenswandel" vor. Armstrong, immer wieder Armstrong. Der dreimalige Tourchampion aus Texas, der in Ullrichs Glanzjahren 1996/97 dem drohenden Krebstod widerstand, wuchs von Jahr zu Jahr zum scheinbar unbezwingbaren Titan, in dessen Schatten der Junge aus Rostock auf der Stelle trat. Dass man ihm den Amerikaner fortwährend als Vorbild andiente, machte die Sache nicht besser. "Ich bin nicht Armstrong", wiederholte er immer wieder fast trotzig. Und verwies darauf, dass für ihn Radsport nicht alles sei. "Ich will auch leben." Es wurde viel darüber spekuliert, inwieweit der schnöde Mammon Ullrichs Bereitschaft zum Leiden beeinflusste. Wer im Jahr geschätzte fünf Millionen Euro verdient und praktisch alles hat, dem gehen die Motive aus, sich noch zu quälen. Ullrich beteuerte immer wieder, bei ihm sei das anders. Er hätte die Lust an der schlauchenden Kurbelei noch nicht verloren. Und nichts wünsche er sich mehr, als die Grand Boucle noch einmal als Sieger zu beenden. Wen immer er dabei auch bezwingen müsse. Die große Schar der Fans war geneigt, ihm zu glauben. Denn das Jahr hatte für das labile Genie so verheißungsvoll begonnen wie lange nicht. Ohne das übliche Übergewicht war Ullrich aus dem Winter gekommen und hatte sich durch Tausende Trainingskilometer eine solide Basis für eine erfolgreiche Saison geschaffen. Doch dann schmerzte plötzlich das rechte Knie. Überbeanspruchung, diagnostizierte die zu Rate gezogene Medizinerschar. Im ehrlichen Bemühen, diesmal alles richtig zu machen, hatte Jan Ullrich undosiert und unkontrolliert Gewichte gestemmt, bis das sensible Beingelenk streikte. Er war praktisch Opfer seines eigenen Ehrgeizes geworden. Wie das in einem so hoch professionalisierten Team wie Telekom passieren konnte, bleibt ein Rätsel. Auch bei der Suche nach den konkreten Ursachen der Beschwerden tappten die Kapazitäten in Weiß ewig im Dunkeln. Statt auf zwei, kurvte der längst auch psychisch angeschlagene Radstar vorzugsweise auf vier Rädern umher. Für Spezialmassagen, Akupunktur und Aqua-Jogging pendelte er zwischen einer Spezialklinik in Badenweiler, der Praxis eines Sportmediziners in Basel und dem Uni-Klinik in Freiburg. Lange ohne Erfolg. Mit jedem Tag und jedem Kilometer im Auto wuchs der Frust. Bis er sich Anfang Mai nicht mehr beherrschen ließ. In einer Freiburger Disco nahe des Hauptbahnhofs ertränkte Ullrich seinen Kummer in Bier und Rotwein. Der Rest ist bekannt. Die Irrfahrt wirkte zugleich wie ein Ausbruchsversuch. Allzu lange hatte ihn das allgegenwärtige Management des Teams Telekom geradezu hermetisch abgeschirmt. Ullrich wurde von den Mannschaftsleitern, dem Pressesprecher, seinem Hamburger Manager Wolfgang Strohband, Privattrainer Peter Becker (Berlin), Leibkoch und Hausarzt praktisch rund um die Uhr versorgt. Team-Manager Walter Godefroot musste nach dem Crash unter Alkoholeinfluss und anschließender Fahrerflucht eingestehen, dass das "Babysitter-System" (Deutsche Presse-Agentur) gescheitert sei. Im Prinzip hatte das Telekom-"Wohlfühlpaket" die sehr ähnliche Rundumbetreuung im DDR-Leistungssportsystem beinahe nahtlos abgelöst. Ullrich sollte sich einzig aufs Radfahren konzentrieren. Um alles andere kümmerten sich dienstbare und allzeit bereite Geister. In dieser fremdbestimmten Atmosphäre als Persönlichkeit zu reifen und erwachsen zu werden, würde jedem schwer fallen. Es ist äußerst fraglich, ob dem aus einfachen Verhältnissen zum Velo-Millionär aufgestiegenen Jungen diese Welt nicht immer irgendwie fremd geblieben ist. Im Blitzlichtgewitter der Fotografen und Dickicht der Reportermikrofone blieb der inzwischen 28-Jährige stets gehemmt und einsilbig, sein Unbehagen war immer fühlbar. Am wohlsten fühlt sich Jan Ullrich im Sattel. Das Rotieren der Pedale ist wichtiger Bestandteil seines Lebens; außerhalb der Radsportwelt ist sein Horizont bis heute sehr begrenzt geblieben. Deshalb hat es ihn unzufrieden und reizbar gemacht, als ihm die Dauerprobleme mit dem Knie Einhalt geboten. Und die Gewissheit, zum zweiten Mal nach 1999 auf die Tour de France ("Es ist das Rennen, das mir am meisten liegt, das ich über alles liebe") verzichten zu müssen, hat ihn tiefer getroffen, als mancher denkt. Als der desolate Star in der Blankeneser Tabea-Klinik hoch über der Elbe operiert wurde - viel zu spät, wie Insider meinen - war "die Saison längst verhunzt". Dennoch traf das Abendblatt nach dem erfolgreichen Eingriff von Professor Bernd Kabelka einen Jan Ullrich, der trotz allen Frustes noch immer Hoffnung hatte und kampfbereit war. "Ich bin noch nicht am Ende", sagte der Telekom-Kapitän. "Ich spüre, dass noch viel in mir steckt." Doch die Rehabilitationsphase zog sich quälender in die Länge als befürchtet. Wann und auf welche Weise die bei der Dopingkontrolle am 12. Juni in der Reha-Klinik Bad Wiessee am Tegernsee entdeckten Amphetamine in Ullrichs Körper gelangten, ist noch nicht geklärt. Ohne Zweifel mündete der öffentlich gewordene Dopingfall, der in seiner Bedeutung jenen des Leichtathleten Dieter Baumann und des Ringers Alexander Leipold in nichts nachsteht, in die tiefste Lebenskrise des sensiblen Pedaleurs. "Wir wissen, dass wir jetzt auf ihn aufpassen müssen", sagte Telekom-Teamchef Rudy Pevenage. Die Bonner Elite-Equipe tut gut daran, den gestrauchelten Star nicht vorschnell fallen zu lassen. Ob der Boris Becker des Radsports tatsächlich am Ende seiner Karriere angekommen ist, wie viele meinen, wird die Zukunft zeigen. Wenn die B-Probe, die heute geöffnet wird, das positive Ergebnis der A-Probe bestätigt, droht dem Olympiasieger von 2000 eine mehrmonatige Sperre - und Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Danach verhilft dem "größten Radtalent der Welt" (Lance Armstrong) vermutlich nur eine Radikal-Kur zurück in den Sattel: Neues Umfeld, anderer Wohnort - vielleicht sogar ein Team-Wechsel. Jean-Marie Leblanc, Chef der Tour der France, für den das Ullrich-Desaster "Zeichen eines verletzten Jungen" ist, macht der angekratzten deutschen Rad-Ikone Mut: "Die Tür zur Tour bleibt offen." Vielleicht heilt die Tour der Leiden ja alle Wunden.