Sportmacht China: Mit westlichen Methoden und ohne Doping wollen die Gastgeber der nächsten Spiele die Nummer eins der Welt werden. In Athen zeigen sie, dass sie auf dem besten Wege sind.

Athen. Yaoming Gu ist Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) von China. Er parliert fließend in Englisch und ist auch deshalb in diesen Tagen in Athen ein gefragter Mann. "Nein!", sagt Gu, bringt dabei seinen Körper in Abwehrhaltung, schüttelt den Kopf und lächelt. "Nein, wir werden am Ende nicht die Besten sein. Amerikaner und Russen sind stärker als wir, und das wird noch lange Jahre so bleiben." Gus Augen aber verraten ihn: Seine Überzeugung, dass es ganz schnell anders kommen wird, kann er unter seinen maskenhaften Zügen nicht verbergen.

Der Medaillenspiegel der 28. Olympischen Sommerspiele spricht nach sechs von 16 Wettkampftagen bereits diese Sprache: Mit 14 Gold-, neun Silber- und sechs Bronzemedaillen liegen die Sportler aus dem Reich der Mitte gleichauf mit den USA in der Nationenwertung. "Spätestens 2008 bei den Spielen in Peking wird China die Nummer eins sein", glaubt der deutsche NOK-Präsident Klaus Steinbach.

Athen gerät den Chinesen zum Testlauf für den Prestigeauftritt in vier Jahren in der eigenen Hauptstadt. 407 Athleten (Deutschland: 451) schickten die Chinesen nach Griechenland, erstmals besetzen sie alle Sportarten. 2000 in Sydney liefen nur 311 Sportler unter der roten Flagge ein. "Wir haben zahlreiche junge Athleten nominiert", sagt Gu, "sie sollen Erfahrungen sammeln." Und in vier Jahren Gold holen. Das sagt er nicht. Die Botschaft seiner wohl gewählten Worte: Niemand soll sich vor dem roten Riesen fürchten.

Doch der rüstet gewaltig auf. Verteilte sich die fast stetig steigende Anzahl der Medaillen seit der Rückkehr auf die olympische Bühne 1984 in Los Angeles hauptsächlich auf Turnen (35), Wasserspringen (29), Tischtennis (27), Gewichtheben (26), Schießen (25), Schwimmen (19) und Badminton (17), soll 2008 in Peking der Angriff aufs Edelmetall flächendeckend erfolgen. Mit 28 Gold-, 16 Silber- und 15 Bronzemedaillen strahlte China im Jahr 2000 hinter den USA und Russland noch auf Rang drei. Die deutschen Sportler (13-17-26) notierten als Fünfte.

Die Entwicklung Chinas zur stärksten Wirtschafts- und Sportmacht der Welt scheint zwangsläufig. 1,3 Milliarden Menschen bilden das unerschöpfliche Potenzial für den Aufstieg von den Armen zu den Arrivierten. Die jährlichen Wachstumsraten lagen zuletzt zwischen sieben und elf Prozent. China produziert 55 Prozent aller weltweit verkauften Kameras. Wer in Deutschland Spielzeug kauft, stellt bei jedem zweiten Artikel fest: Made in China! Das Magazin "Stern" nannte das Land "die Fabrikhalle der Welt". Der Rohstoffbedarf ist gigantisch und längst nicht mehr aus eigenen Ressourcen zu sättigen. China stieg zum größten Stahl- und Kupferimporteur auf, die Preise auf dem Weltmarkt kletterten entsprechend. Die Bevölkerung erfährt den Boom vorerst in Ansätzen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf fiel im vergangenen Jahr mit 910 Euro im Vergleich zu den USA (31 270) und Deutschland (20 990) bescheiden aus. Das liegt vor allem an den niedrigen Löhnen. Ein chinesischer Werktätiger verdient laut der jüngsten Statistik der Weltbank pro Stunde einen Euro, ein Deutscher 16 Euro.

Für den Sport gelten andere Gesetze. Während in Deutschland die meisten Olympiasieger von ihrem Ruhm über den Tag hinaus kaum profitieren, haben chinesische Goldmedaillengewinner gewöhnlich ausgesorgt. Neben umgerechnet 20 000 Euro Siegesprämie (15 000 Euro in Deutschland) garantiert die Regierung Arbeitsplätze bis zum Ruhestand. Auch die Werbung hat die Stars entdeckt. Der Wasserspringerin Jingjing Guo schenkte eine Baufirma aus der Provinzhauptstadt Shijiazhuang nach ihrem Triumph in Athen ein Haus. Geschätzter Wert: 100 000 Euro. Die Studentin Xuejuan Luo, sie siegte überraschend über 100 Meter Brustschwimmen, darf künftig kostenlos telefonieren. Ein Telekommunikationsunternehmen in ihrer Geburtsstadt Hangzhou hatte sie vor den Spielen unter Vertrag genommen. In Athen hielt sie nach der Pressekonferenz ihr neues Handy demonstrativ in die Kamera des chinesischen Staatsfernsehens.

NOK-Generalsekretär Gu mag Gesten wie diese nicht. Das Thema Kommerz missfällt ihm, stoppen kann er die Entwicklung nicht. Er redet von veränderten Strukturen im Sport und der "Konkurrenz der neuen Ökonomie". Immer mehr Eltern schickten ihre Kinder zur Schule statt zum Sport. Das garantiert eher Erfolg. Manager wird man leichter als Olympiasieger. "Wir müssen uns den Verhältnissen anpassen", sagt Gu.

Früher, in den 70er-Jahren bis Anfang der 90er, bot der Sport wie einst in allen sozialistischen Ländern auch in China die beste Chance zum sozialen Aufstieg, öffnete den Zugang zu Privilegien. Der Weg an die Spitze war hart. In den mehr als 3000 Sportschulen des Landes herrschten Zucht, Ordnung und militärischer Drill. Die Auslese begann im frühen Kindesalter. Wer es in den Nationalkader schaffte, erhielt ein monatliches Stipendium von rund 20 Euro, freie Kost und Logis. Dopingpillen, berichteten später die wenigen, die Einblick hatten, gehörten zu den Grundnahrungsmitteln. Tests fanden selten statt, ausländische Kontrolleure mussten tagelang auf ein Visum warten.

Der Spuk endete 1998. Die australischen Behörden entdeckten im Gepäck der chinesischen Schwimmnationalmannschaft, die zur Weltmeisterschaft nach Perth reisen wollte, massenweise Ampullen verbotener Substanzen. Die Chinesen zogen ihr Team von der WM zurück und räumten im eigenen Lager in einer Art sportlicher Kulturrevolution gründlich auf. Trainer wie der berüchtigte Leichtathletik-Coach Ma Junren mussten gehen, Funktionäre wurden pensioniert. Peking brauchte eine Imagekorrektur. 2001 stand die Entscheidung über den Austragungsort der Spiele 2008 an. Der Kurswechsel kam rechtzeitig, China erhielt den Zuschlag trotz massiver Proteste von Menschenrechtsorganisationen.

Die Sportförderung passte sich den Verhältnissen an. Stipendien wurden auf bis zu 500 Euro im Monat erhöht, trainiert wird mit modernstem technischen Gerät, Wissenschaftler und Mediziner steuern gestützt auf Computerauswertungen die Belastungen. In den Sportschulen werden jetzt Fächer wie Ernährung und Psychologie unterrichtet, der Ton zwischen Lehrern und Schülern hat sich entschärft. Städte und Provinzen unterstützen derzeit 17 000 Karrieren. Für die Spiele 2008 werden 3200 Sportler in den Landeskadern geführt. Das gesamte Programm wird von der Regierung mit 40 Millionen Euro jährlich unterstützt. "Wir wollen uns in vier Jahren in Peking nicht vor der Welt blamieren", sagt Yaoming Gu. Eine Goldmedaille für Understatement gebührt ihm schon jetzt.