Aktion: Kommen, gucken - . . . und los! Kinder und Jugendliche brauchen Raum für Bewegung - das Abendblatt und die Hamburger Sportjugend starten eine große Kampagne.

Hamburg. Als Christoph Ebenthal den Mitarbeitern im Wilhemsburger Haus der Jugend das erste Mal erklärte, dass beim "Straßenfußball für Toleranz" in jeder Mannschaft auch mindestens ein Mädchen mitspielen muss, haben sie nur gegrinst: "Das kannst du gleich vergessen, das funktioniert hier nicht. Schon gar nicht bei den türkischen Jugendlichen." Der 48 Jahre alte Sozialpädagoge aber setzte noch einen drauf: "Und die Tore einer Mannschaft zählen erst, wenn auch das Mädchen einen Treffer erzielt hat."

Auch Björn Lengwenus wurde nicht gerade stürmisch bejubelt, als er den Jugendlichen in Kirchdorf-Süd vor zwei Jahren die Regeln des Straßenfußball-Turniers erklärte. "Was soll der Mist? Mit Mädchen - dann spielen wir nicht mit." Na dann eben nicht, hat der 32-jährige Lehrer der Schule Fraenkelstraße geantwortet. Und plötzlich hatte doch jede Mannschaft - wie aus heiterem Himmel - ein Mädchen aufzubieten. Ob es denn wenigstens was zu gewinnen gebe, wollten sie noch von ihm wissen. "Nein, nichts." Wieso das denn nicht? "Soll ich euch von der Liste wieder streichen?", hat er gefragt. "Nee, nee!"

Deutliche Worte, klare Sätze, feste Regeln - was vor zwei Jahren mit zehn Turnieren und so viel Skepsis begann, das erfreut sich in Hamburg zunehmend größerer Beliebtheit. In diesem Sommer finden bereits 30 Turniere statt, sie rennen dem runden Leder in Rothenburgsort, in Billbrook, in Neuwiedenthal, Osdorf, Dulsberg oder morgen in der Lenzsiedlung in Eimsbüttel (siehe Bericht unten) hinterher. Die Veranstalter der Hamburger Sportjugend (HSJ) gehen genau dorthin, wo die Jugendlichen sind. Dabei geht es nicht um das Anwerben neuer Mitglieder. Kein Vereinsbeitritt droht, keine Mitgliedsbeiträge sind das Ziel. Kommen, gucken - . . . und los! Nur darum gehts.

Natürlich ist diese völlig neue Form der offenen Jugendarbeit kein einfaches Unterfangen. Viele Jugendliche seien "rotzfrech, auffällig und grenzüberschreitend", sagt Christoph Ebenthal. "Die sprichst du an, und es kommt nichts an." Nur wenns um Sport geht, "dann sind sie alle da". Da sei das Bedürfnis nach Spiel, nach Einsatz. Da ist der Spaß am "Kampf" im positiven Sinn und der Wunsch, Vorbildern nachzueifern. Der Geschäftsführer von "NestWerk", das sich in den so genannten sozialen Brennpunkten in Hamburg engagiert, nennt eine Reihe von Gründen, warum die Kinder und Jugendlichen heute zum Teil "so schräg" drauf seien. Neben der furchtbaren städtischen Architektur in einzelnen Siedlungen ("was steckte da bloß für eine Idee dahinter?") würde oft der Erziehungsauftrag in den Familien einfach nicht mehr wahrgenommen. "Es werden keine Grenzen mehr gesetzt. Da ist keiner mehr in der Familie, der dem Kind sagt: ,Das darfst du nicht!', ,Das kommt überhaupt nicht in Frage' oder: ,Red mal ordentlich!'", sagt Ebenthal. "Das tradierte Rollenverständnis, Sprachbarrieren, die Belastung durch Arbeit oder Arbeitslosigkeit - da kommt vieles zusammen." Dazu käme die nicht eben kinderfreundliche Einstellung bei so manchem Entscheidungsträger. Ebenthal: "Als wir zum Beispiel darüber verhandelten, an welchen Orten wir in den einzelnen Wohngebieten Fußball spielen könnten, hieß es oft zuerst: ,Auf keinen Fall auf den Rasenflächen!'"

Auch Waldemar Rohde weiß um die Problematik, genügend Bewegungsräume für Jugendliche zu bekommen, in denen sie sich "so auspowern können, dass sie anschließend gar nicht mehr auf die Idee kommen, auf die Straße zu gehen und andere abzuziehen, weil sie völlig geschafft sind". Der Jugendbetreuer kam 1995 aus Kasachstan nach Deutschland, trieb erst in seiner Freizeit mit Jugendlichen in Allermöhe Sport, machte dann eine Ausbildung zum Übungsleiter. Jetzt ist er stellvertretender Leiter im Rahlstedter Jugendclub "Yes!" und bietet jeden Freitag mit "Voll in Bewegung e. V." den Jugendlichen von 17 Uhr bis ein Uhr nachts Ballspiele in der Halle an. Kostenlos. Dann sonnabends Fußball und Basketball (15 bis 20 Uhr) und sonntags wieder Ballspiele (11 bis 18 Uhr).

Haben Jugendliche zu wenig Möglichkeiten zur Bewegung? "Klar", sagt der 46-Jährige. "Wo ist denn in Hamburg am Wochenende ein Jugendzentrum oder eine Halle geöffnet? Solche Angebote müsste es doch in jedem Stadtteil geben." Aber aus langjähriger Erfahrung weiß der gelernte Kfz-Mechaniker eben auch, dass man oft gar nicht erst in die Hallen reinkommt, "weil sich Schulleiter quer stellen" oder Hausmeister die Gebäude nicht so lange öffnen wollen.

In der Sporthalle in der Ahrenshooper Straße tummeln sich Woche für Woche rund 150 Jugendliche aus mehr als 20 verschiedenen Nationen. "Und es werden immer mehr", sagt Rohde, "obwohl wir keine Werbung machen." Sie spielen Volleyball wie Marina (20), "um Stress abzubauen, Leute zu treffen und nicht auf der Straße rumzuhängen". Jüngere spielen mit Älteren, Jungen mit Mädchen, und alle müssen lernen, sich gegenseitig zu akzeptieren. Das wichtigste und gleichzeitig schwierigste Alter der Jugendlichen liege zwischen 13 und 16 Jahren. Rohde: "Viele wissen gerade in diesem Alter nicht recht, wo sie stehen. Manche sind mit der Schule fertig, haben noch keine Ausbildung. Da ist es ganz wichtig, dass sie eine Gruppe haben, in der sie sich nach gemeinsamen Regeln verhalten müssen."

Genau so wichtig ist der Betreuer. "Du musst gut sein", sagt Waldemar Rohde. Was das heißt? Na ja, vor allem: Genau wissen, was du willst. Und immer alles geben. Und Ahnung von der Materie haben. Denn natürlich würden die Jugendlichen anfangs erst einmal austesten, "was du kannst". Und, so Rohde: "Es muss immer etwas stattfinden. Länger als zehn Minuten darfst du sie nicht sich selbst überlassen."

Arne Klindt, Vorstandsmitglied der Hamburger Sportjugend, nennt eine weitere wichtige Eigenschaft. "Der Betreuer muss auch die Bereitschaft haben, in den Konflikt zu gehen", sagt der 39-Jährige, der zusammen mit dem Hamburger Abendblatt und "Kinder helfen Kindern" jetzt die Kampagne " . . . und los!" (siehe Bericht unten) initiiert hat.

Und er muss die Jugendlichen mögen. Gibt es viele Problemfälle? "Das Wort kenne ich nicht", sagt Waldemar Rohde und lächelt still in sich hinein. Christoph Ebenthal drückt es so aus: "Man muss an die Kinder glauben, an ihre Power und ihre Lust, sich auszuprobieren", sagt der Musiker, der auch deshalb auf Sport setzt, weil die Kinder und Jugendlichen dort lernen würden, etwas zu riskieren sowie "zu gewinnen und zu verlieren" - und anschließend damit umzugehen. Natürlich gebe es bei den Turnieren hin und wieder Zwischenfälle und handgreifliche Auseinandersetzungen, obwohl das Mitwirken der Mädchen "ungeheuer deeskalierend" wirke.

"Aber wenn es diese Zwischenfälle nicht gäbe, dann bräuchten wir Straßenfußball für Toleranz ja auch gar nicht zu machen", sagt Björn Lengwenus.