Trainer Martin Jol und seine Profis jubelten ausgelassen, die Fans feierten den Treffer des Abends von Mladen Petric (Foto). Abendblatt-Redakteur Dieter Matz hat den HSV einem Meister-Check unterzogen - mit zehn Kernfragen. Die Bildergalerie zum Spiel HSV gegen Bayern.

Hamburg. Die Nordbank-Arena brodelte vor Begeisterung. Hätte Lotto King Karl nach dem Abpfiff des Nord-Süd-Gipfels noch einmal "Hamburg, meine Perle" angestimmt, wäre die Textzeile "zieh'n wir dir die Lederhosen aus" zum gesanglichen Donnerwetter geworden. Es herrschte Begeisterung. Und mehr als das, denn nach dem 1:0-Triumph wurde auch rege diskutiert. Und zwar primär um die Frage: Ist dieser HSV reif für den Gewinn des Meistertitels? Passend dazu unterzog Abendblatt-Redakteur und Fußballexperte Dieter Matz den HSV einem Meister-Check - mit zehn Kernfragen:

1. War der Sieg gegen die Bayern mehr wert als drei Punkte? In der Tabelle natürlich nicht, aber in den Köpfen der Spieler und Beobachter schon. Der HSV hat mit seinem Aufritt bewiesen, dass man den Bayern mit mutiger, offensiver Spielweise die Stirn bieten und sich auf diese Weise auch durchsetzen kann. Mladen Petrics Tor war die Krönung einer starken Mannschaftsleistung und hat der Mannschaft einen weiteren Motivationsschub für die kommenden Wochen und Monate verschafft. Was das Selbstvertrauen betrifft, dürfte Martin Jols Team schon jetzt nahe am Optimum rangieren.

2. Droht die Mannschaft nun in Übermut zu verfallen? Die Antwortet lautet eindeutig: nein. In Martin Jols Team gibt es zu viele Spieler, deren große Stärke die Bodenhaftung ist, dazu zählen neben Joris Mathijsen, Frank Rost und David Jarolim auch Offensivspieler wie Piotr Trochowski und Mladen Petric. Zudem hat Trainer Martin Jol ein Gespür für Stimmungen und atmosphärische Störungen im Kader, worauf er mit Sofortmaßnahmen wie der jüngsten Kaderstreichung des Brasilianers Thiago Neves reagiert.

3. Wie wirkt sich der Ausfall von Bastian Reinhardt aus? Die Verletztung des Innenverteidigers wiegt schwer, zumal es aktuell an großartigen Alternativen fehlt. Guy Demel wird vorerst einspringen, den Ivorer zeichnet aber eigentlich sein Vorwärtsdrang als Rechtsverteidiger oder defensiver Mittelfeldspieler aus. Daher ist es wahrscheinlich, dass der HSV kurzfristig noch auf dem Transfermarkt aktiv wird. Für eine Überbrückungsphase von zwei bis drei Wochen wird das Duo Mathijsen/Demel oder auch Mathijsen/Alex Silva keine erkennbare Schwächung darstellen - sofern es keine weiteren Ausfälle in diesem Mannschaftsteil gibt.

4. Ist der Kader gut genug besetzt für den Kampf um die Tabellenspitze? Es klingt wie eine abgedroschene Phrase, aber sofern der Kader von weiteren Verletzungssorgen verschont bleibt, die Rückkehr einiger Rekonvaleszenten wie Castelen zudem zeitnah erfolgt, muss sich der HSV mit seinem Kader nicht vor ambitionierten Klubs wie Bremen, Leverkusen, Hoffenheim oder Schalke verstecken. Im Vergleich zum extrem ausgeglichenen Bayern-München-Kader muss der HSV zwar Abstriche verzeichnen, doch eine derartige Leistungsdichte können sich die "Rothosen" eben noch nicht leisten. Aber auch in der Vergangenheit ist nicht immer der teuerste Kader Meister geworden.

5. Wann werden die Neuzugänge Marcel Ndjeng, Tomas Rincon und wahrscheinlich Mikael Tavares dem Team helfen können? Man muss Geduld mit ihnen haben - und auch sie selbst müssen Geduld aufbringen, sich an das höhere Niveau und die extremen Fehlerfolgen zu gewöhnen. Ndjeng dürfte die geringsten Eingewöhnungsschwierigkeiten haben, zumal er in Mönchengladbach bereits Bundesligaerfahrung sammeln konnte. Grundsätzlich sollte man mit allen Winter-Neuzugängen frühestens ab Mitte März richtig rechnen, zuvor könnten sie ein paar Kurzeinsätze als Einwechselspieler sammeln. Im Training helfen sie dem HSV sofort, weil sie den Konkurrenzkampf anheizen.

6. Ist es ein Nachteil, dass der HSV noch auf "drei Hochzeiten" tanzt, also in der Liga, im DFB-Pokal und im Uefa-Cup mitmischt? Vorstände und Finanzfachleute hören es zwar nicht gerne, aber selbstverständlich belasten die stetigen Anforderungen in drei Wettbewerben die Profis körperlich und mental - gerade im Endspurt der Saison kann es daher immer wieder zu unvorhersehbaren Leistungseinbrüchen kommen (was häufig genug bei Champions-League-Teilnehmern zu sehen ist). Gelegentlich, bei in der Breite gut aufgestellten Teams, die von schweren Verletzungen verschont bleiben, können sich die Mehrfachbelastungen in Topspielen aber auch leistungsfördernd auswirken. Für den HSV bedeutet das: Noch wirkt sich die Dreifachbelastung nicht negativ aus, aber es wurden ja auch erst ein Pokalspiel und ein Bundesligamatch bestritten.

7. Welche Spieler können nach dem Abgang von Nigel de Jong in der Rückserie zu Führungspersönlichkeiten heranreifen? Piotr Trochowski hat gegen den FC Bayern unter den Augen des Bundestrainers eindrucksvoll bewiesen, dass er in der Rückserie noch mehr Verantwortung übernehmen will. Marcell Jansen gewinnt auch mehr an Stabilität. Bisherige Ergänzungskräfte wie Collin Benjamin, der in der Mannschaft ohnehin ein gutes Standing hat, könnten verstärkt benötigt werden und mit ihren Aufgaben wachsen. Alex Silva wird mit jeder Verbesserung seiner Deutschkenntnisse als Führungsfigur reifen, sofern er sich von seiner Leisten-OP gut erholt hat.

8. Welche Einflussmöglichkeiten hat Trainer Martin Jol auf den Erfolgsweg der Mannschaft? Der Trainer gibt die Rahmenbedingungen vor. Er hat die taktische Disziplin geprägt, er fordert seine Profis zur Mitbestimmung auf und tauscht sich häufig mit ihnen aus. Er schwört die Mannschaft vor den Duellen intensiv auf den Gegner, seine Stärken und Schwächen ein. Mit taktischen und personellen Einzelmaßnahmen wie Pitroipas Nominierung für die Startelf gegen die Bayern kann der Coach Überraschungsmomente schaffen und seiner Mannschaft zudem Lösungsmöglichkeiten zum "Knacken" eines Gegners anbieten.

9. Wie verarbeitet das Team Rückschläge/Misserfolge? Auch hier muss man wieder eine Phrase bemühen. Die wahre Stärke einer Mannschaft zeigt sich erst im Falle des Misserfolges. Die charakterlichen Grundzüge des HSV-Kaders sprechen eigentlich für eine gute Verarbeitung von Pleiten oder anderweitigen Rückschlägen. David Jarolim und Co. sind "schlechte Verlierer", was aber keinesfalls negativ gemeint ist. Sie tun alles dafür, um Niederlagen zu verhindern. Und wie in der Hinrunde besinnen sie sich auf ihre Stärken und ihre Trainingsarbeit, wenn es darum geht, nach Negativerlebnissen wieder in die Spur zu finden.

10. Ist dieser HSV reif für den Titelgewinn in der Bundesliga? Die Antwort mag vielleicht nicht befriedigen, aber sie lautet: vielleicht. Von den Einzelspielerqualiäten her taugt das Team auf jeden Fall zum Titelträger, Trainer und Umfeld ebenfalls. Allerdings sind die Unwägbarkeiten und die Konkurrenz zu so einem frühen Zeitpunkt kurz nach Rückrundenstart so groß, dass ein Pauschalurteil übertrieben wäre. Noch fehlt es dem HSV an qualitativ hochwertiger Kaderbreite, so dass namhafte Ausfälle gleichwertig ersetzt werden könnten. Betrachtet man all diese Bewertungsgrundsätze, käme aber ohnehin nur der FC Bayern als titelreifer Kandidat in Frage.