Das Gebiet begeistert seine Besucher mit urigen Erlebnissen wie Fahrten durchs Moor, einem Museumsdorf und schmucken Klostercafés.

Martin zieht seine Baseballkappe ein bisschen höher und zupft an seinem Hemd. Wahrscheinlich besteht sonst Gefahr, dass der Gipfel der Leibeswölbung Knöpfe sprengt. Doch auch anderweitig droht Ungemach. "Wenn der Waggon nicht gleichmäßig belastet ist", mahnt Martin unmittelbar vor der Abfahrt, "kann er leicht entgleisen." Die Passagiere der Moorbahn schmunzeln. Guter Gag! Zuckelnd setzt sich das skurrile Gefährt in Bewegung. Auf zur großen Erlebnistour durch das Goldenstedter Moor. Dass Martin nicht scherzt, zumindest in dieser Beziehung nicht, werden die Fahrgäste erst gegen Ende der Exkursion durch diese einzigartige Landschaft registrieren.

Auch wenn bei Ausflugstipps mit Superlativen gegeizt werden sollte, eines vorweg: Der Törn mit der urigen Bummelbahn ist ein Ereignis mit außerordentlichem Spaß- und Lernfaktor, das so manche künstliche Freizeitunterhaltung mit Leichtigkeit und elf PS in den Schatten stellt. Dass nicht nur Martin, sondern auch Günther auf der komischen Zugmaschine thronen, hat seinen Grund, wie die Gäste auf den beiden angehängten Waggons rasch feststellen. Denn kaum abgefahren, hechtet Martins Kumpel von dem dunkelgrünen Gefährt, sprintet voraus, bückt sich und stellt eine Weiche. Es quietscht gnadenlos. Günther hat den Bogen raus und springt zurück auf die Lok, die auch ein Rasenmäher sein könnte.

Im Schritttempo zuckelt die Bahn durchs Moor. Endlich Gelegenheit, die außerordentliche Landschaft zu betrachten. Den zwei Dutzend Passagieren bietet sich ein Bild für Götter: Der morastige Grund glitzert im Sonnenschein, Vögel zwitschern, seltene Insekten schwirren umher, überall sind spiegelnde Tümpel zu sehen, dazwischen stehen krüppelige Birken und alles mögliche andere Gehölz. Soweit der Blick reicht. So ist der Norden; es gibt kein schöner Land.

Das Quietschen nimmt zu, von lautem Scheppern begleitet, dank Günther wird eine weitere Weiche gemeistert, dann haut Martin die Bremse rein. Stotternd und grunzend kommt die Moorbahn zum Stehen. Verblüffend elegant hüpft Martin vom Bock und hält eine erste von mehreren Ansprachen. Informationsgehalt erstklassig. Er erzählt vom ursprünglichen Charakter des Goldenstedter Moors am nordwestlichen Rand des Diepholzer Naturraums, einem der größten zusammenhängenden Moorgebiete Deutschlands. Zwei Drittel der Hoch- und Niedermoore sind "wiedervernässt" und werden renaturiert. "Sie werden nach Beendigung des Torfabbaus der Natur zurückgegeben." 2015 läuft der Vertrag mit der Industrie ab. Danach herrscht wieder Ruhe.

Martin und Günther schwingen sich wieder auf ihre Mini-Lok und fahren weiter. Wer nicht an Proviant gedacht hat, sitzt auf dem Trockenen. Konsequenz: Weitsichtige Mitreisende lassen Chipstüten und Apfelstücke kursieren. Eine Frau aus Vechta empfiehlt das Schlachtereimuseum in Vörden. Ein Familienvater nutzt die idyllische Tour, um einen kulinarischen Geheimtipp preiszugeben: Im Herzen Visbeks lockt Freese; die Ware im Restaurant komme ohne Umwege aus der angegliederten Schlachterei. Weitere Passagiere geben Wissenswertes über das Oldenburger Münsterland zum Besten: So ist der Name auf die Verbundenheit der Region zum Fürstbistum Münster sowie auf die Verstaatlichung der kirchlichen Güter im Oldenburger Land zurückzuführen. Die Menschen hier sind fast alle Katholiken. Der inzwischen selig gesprochene Kardinal Graf von Galen etwa, der sich so tapfer gegen die Nazis aufgelehnt hatte, wurde in Dinklage geboren, wo man heute noch das Nonnenkloster im Burgwald und ein beliebtes Klostercafé direkt gegenüber besuchen kann. Nur eine gute Viertelstunde entfernt liegt Mühlen, Heimat der Erfolgspferde aus dem Stall Paul Schockemöhle. Einen Besuch wert sind auch die Thülsfelder Talsperre und der Dümmer See, der zweitgrößte Binnensee Niedersachsens.

Die Tradition spielt im Landstrich südwestlich von Bremen eine große Rolle und wird dementsprechend gefeiert: Es gibt Schützenfeste, Maitouren, den Karneval in Damme, den Stoppelmarkt in Vechta, Grühnkohlessen und den Brauch des Kilmerstuten: Das ist ein langes Rosinenbrot, das auf einer Leiter von vier Personen getragen jungen Eltern zu Ehren ihres Babys nach Hause gebracht wird. Die Geschichten klingen auch deshalb so gut, weil die Mitreisenden sie so begeistert von der eigenen Heimat erzählen. Eine Dame berichtet vom Mordkuhlenberg in den Dammer Bergen, wo sich früher die Räuber versteckten. Eine andere von gut erhaltenen Moorleichen, die man im Moor- und Fehnmuseum in Elisabethfehn angucken kann. Nicht nur die Kinder spitzen die Ohren.

Martin unterbricht die Fachgespräche mit einem weiteren Stopp. Er berichtet von dem vor Ort üppig wachsenden Buchweizen. Traditionell wird damit im Moor von jeher gekocht und gebacken - früher als Armeleutekost, heute als regionale Spezialität. So wird im Haus im Moor an der Start- und Endstation der Bahn zum Beispiel der Buchweizenpfannkuchen "Jan Hinnerk" zubereitet. Braun gebrutzelt, mit ein bisschen Speck, getoastetem Schwarzbrot und Konfitüre.

Weiter geht's. Günther stellt die Weichen. Erstaunlich, dass sich die Waggons überhaupt auf den alten Gleisen halten können. Teilweise sind die Schienen verbogen oder im Erdreich versunken. Hilfreich, dass die Jungs vorne Profis von echtem Schrot und Korn sind. Wenn es ernst zu werden droht, drosselt Martin das Tempo auf Schneckengeschwindigkeit. Das ist prima für die Kinder, die zwischendurch auf dem Triebwagen Platz nehmen dürfen und sich wie kleine Moorkönige fühlen. Von irgendwo zaubert Martin immer wieder sehenswerte Beispiele hervor, um sie dem Publikum zu zeigen.

Praktischer kann Biologie nicht sein. Er informiert über eine enorme Artenvielfalt, zum Beispiel den Moorfrosch, gefleckte Heidelibellen, aber auch den Raubwürger und andere seltene Vogelarten. "Und was machen die vielen Möwen da hinten?", will eine Schülerin wissen. "Die kommen von der Mülldeponie in Vechta", weiß Martin, "und haben hier eigentlich nichts zu suchen." Zum Bedauern der Umweltschützer bringen sie das natürliche Gleichgewicht im Moor durcheinander. Nach einer Dreiviertelstunde ist die Hälfte der Etappe geschafft. Zeit zum Absteigen und ein Stück zu Fuß zu gehen. Fakten werden ausgetauscht. Über das Wirken des Naturschutz- und Informationszentrums, dem Ausgangspunkt der Moorbahn. Mitten in der Natur gelegen, offeriert das Zentrum viele Möglichkeiten zur Erkundung des Moors und dessen Geschichte. Dazu zählen ein Moorerlebnispfad mit Moortunnel, Angebote für Schulklassen, eine Obsterlebniswiese mit 40 Bäumen - und die herrliche Holzterrasse mit Café und traumhaftem Blick aufs Moor.

Bei der Weiterfahrt sorgt plötzlich ein ohrenbetäubendes Scheppern für absolute Stille an Bord. Martin und Günther fluchen unisono. Sie stoppen ihre Zugmaschine, hechten herunter und betrachten das Drama: Der hintere Waggon ist entgleist! Spätestens jetzt begreifen die Mitreisenden, dass Martins Anfangsbemerkung kein Scherz war. Mit einem riesigen Wagenhebers und handfestem Körpereinsatz wird der Schaden im Nu repariert. Scheint öfter vorzukommen. Alle sind schwer beeindruckt. Eine faszinierende Tour durch eine wundersame Landschaft wird von einem Hauch Abenteuer gekrönt. Und das alles für fünf Euro.

Lesen Sie morgen: Im Osten viel Neues: Usedom hat sich fein herausgeputzt, und sein Sandstrand gilt als der feinste und längste Deutschlands.