Dort, wo Argentiniens Fußball-Idol Diego Maradona einst seine Karriere begann, geben Fußball und Tango den Takt an

Es geht um Leben und Tod. Um eine heiße Affäre und verflossene Liebe. Um die Melancholie des Alltags und seine kleinen Freuden. Diego kann ein Lied davon singen. Beziehungsweise viele. Jeden Sonnabend und Sonntag legt der unverheiratete Hobbytenor ein weißes Hemd an. Er schlüpft in einen altmodischen Anzug und stellt sich vor ein bordeauxrotes Haus in La Boca, einem Stadtteil von Buenos Aires.

Dort, genauer, vor der Bar "La Barrica", trägt Diego sentimentale Tango-Lieder vor. Begleitet von einer Drei-Mann-Combo. Im Hintergrund grummelt ein Cello, eine Geige seufzt melancholisch. Und ein Bandoneon, dessen Sound untrennbar mit dem Tango verbunden ist, tänzelt durch die Takte. Die Lieder handeln vom Gestern und Heute. Vom Aufblühen und Vergehen.

Senor Alfredo hat die Blüte seines Lebens längst hinter sich. Der weißhaarige Herr trägt ein paar Jährchen auf dem Buckel - aber den Tango noch immer im Blut. Seinem Lächeln nach zu urteilen, wähnt er sich im dritten Frühling. Pausenlos fordert der 88-Jährige Passantinnen zu einem Tänzchen auf. Etwas hüftsteif führt er die Damen übers Straßenpflaster. Jedes Wochenende. "Ich glaube, er war früher Buchhalter oder Beamter, irgendetwas in der Art", sagt eine junge Bedienung, "aber sonst weiß ich fast nichts über ihn. Außer, dass seine Frau schon vor langer Zeit gestorben ist." Alfredos Revier ist el Caminito (zu Deutsch: das Weglein).

La Boca ist ein Argentinien-Konzentrat, mit gleichermaßen natürlichen und naturidentischen Zutaten. Vor allem der kaum 100 Meter lange Caminito zieht deshalb die Besucher an. Straßenhändler verkaufen Schmuck und Gemälde, in den Geschäften gibt es typische Argentinien-Souvenirs wie Ponchos oder Fußballtrikots. Die meisten in Weiß und Himmelblau - den Farben der albiceleste, dem argentinischen Nationalteam. Fast alle Trikots tragen die Rückennummer 10. Die Nummer des einst weltbesten Fußballers: Diego Armando Maradona. Schon in seiner aktiven Zeit wurde er in Argentinien wie ein Gott verehrt. Jetzt ist er als Nationalcoach ins Achtelfinale eingezogen, wenn er auch das Finale gewinnt, wird er endgültig unsterblich sein.

Als Spieler des örtlichen Fußballklubs Boca Juniors machte Maradona das arme Hafenviertel zum Brennpunkt argentinischer Fußballkunst. Das haben ihm die Menschen bis heute nicht vergessen. La Boca betrachtet Maradona als einen von ihnen, obwohl er gar nicht dort geboren wurde.

Das Stadion der Boca Juniors ist ein paar Minuten vom Caminito entfernt. Wegen seiner rechteckigen Form wird es La Bombonera genannt, die Pralinenschachtel. Den Weg dorthin geht es vorbei an gelb-blau gestrichenen Häusern, den Vereinsfarben der Boca Juniors. Touristen bewegen sich nur in der Nähe des Caminito sicher. Schon wenige Straßenzüge weiter ist das soziale Elend der Arbeiterschicht unübersehbar. Noch vor wenigen Jahrzehnten war auch der Weg am Rande von La Boca tristes Niemandsland. Land für die vielen Niemande, die Ende des 19. Jahrhunderts zu Tausenden nach Buenos Aires strömten. Vor allem aus Italien immigrierten mittellose Familien. Dort, wo heute der Caminito verläuft, wo Tango-Combos gegen Kleingeld aufspielen und Touristen saftige Rindersteaks mampfen, rollten einst schwere Güterzüge. Die Straßenzüge entlang der Gleise waren eine miserable Wohngegend. Hier zimmerten sich die Einwanderer einfachste Buden zusammen. Aus Wellblech und ausgedienten Schiffsplanken.

Die Baracken sind heute eine Attraktion, dank ihrer knallbunten Fassaden. Die Farbe bekamen die Bauherren von der Hafenverwaltung. Halbleere Farbeimer, für die keine Verwendung mehr war. Oder von Seeleuten, die für Übernachtungen mit Schiffslack in allen Farben bezahlten. Daran bestand kein Mangel. So entstand eine kunterbunte Straßenzeile, die Jahrzehnte später von ausländischen Reisenden entdeckt und restauriert wurde.

Körperbetont arbeitet auf dem Caminito auch ein dunkel gelockter, kleingewachsener Mann. Nähert sich ein Tourist, legt der Typ im weiß-blau gestreiften Trikot schon einen Arm um dessen Schulter. Eine Gehilfin drückt den Auslöser ihres Fotoapparats. Gegen Bargeld. Er heiße Diego, beteuert der Dunkelgelockte, und sei ein Cousin von Maradona. Schweiß perlt von seiner Stirn wie einem Kicker nach dem 50-Meter-Dribbling. 20 Dollar verlangt die Maradona-Kopie für ein gemeinsames Foto. Ein amerikanischer Tourist spricht ihn auf die Verrücktheiten seines angeblichen Cousins an. Sofort weiten sich die Augen auf Tischtennisballgröße. Wie wild fuchtelt der Typ mit beiden Händen herum. "Ein Clown? Ein Clown?", ätzt er zurück, "Diego ist ein Gott! Pass auf, was du sagst!" Das hätte der Amerikaner besser getan, denn andere Passanten werden auf das Gezanke aufmerksam und mischen sich in die Diskussion ein. Natürlich zugunsten Maradonas. Rudelbildung auf Argentinisch. Der Tourist versucht zu beschwichtigen, seine Frau zerrt ihn weg.

In La Boca (Deutsch: der Mund) sollte man den Mund eben nicht zu voll nehmen. Vor allem, wenn es um Maradona geht. Späßchen über den kauzigen Fußballgott nehmen schnell Ausmaße einer Gotteslästerung an.