In einem Wald im Burgund entsteht eine Ritterburg in traditioneller Methode. Wer will, kann die spektakuläre Baustelle nicht nur besuchen, sondern auch mit anpacken

Der Weg ins Hochmittelalter erfordert Zeit. Zwar keine 750 Jahre – so lange liegt die Epoche ungefähr zurück –, aber doch zwei Stunden kurvige Autofahrt durch das Département Yonne im Nordwesten des Burgund. Vom Städtchen Auxerre startete die Reise „zu den Verrückten im Wald“, wie eine Dame auf der Straße lachend sagte. In der Tat klingt es nach einer Schnapsidee, was die Franzosen Michel Guyot und Maryline Martin sich vorgenommen haben: Sie wollen eine mittelalterliche Burg mit mittelalterlichen Methoden bauen. Es dürfen nur Arbeitsmethoden angewendet und Werkzeuge benutzt werden, die im 13. Jahrhundert bereits bekannt waren. Die spinnen, die Gallier, könnte man in der Tat denken. Das Projekt hat den Anschein eines übertriebenen Jungentraumes. Playmobil in XXL, wie soll das funktionieren? Und vor allem: Wer bezahlt das?

Hau rein! Es gibt keine harten Steine. Es gibt nur zu weiche Arme

Die letzte Frage wird gleich am Eingang zur Baustelle beantwortet. Die Besucher stehen morgens um zehn Uhr bereits Schlange; zu einer Zeitreise will niemand zu spät kommen. Mit 300.000 Gästen im Jahr, von denen jeder zwölf Euro Eintritt zahlt und vielleicht zusätzlich eine Armbrust im Shop oder ein Würstchen in der Taverne ersteht, sind die Ausgaben im Nu gedeckt. 35 Mitarbeiter sind vor Ort, einer von ihnen ist Hein Koenen aus den Niederlanden. Gäbe es einen Fotokalender mit mittelalterlichen Bauarbeitern, wäre er gewiss auf dem Cover. Braun gebranntes, wettergegerbtes Gesicht, das Baumwollhemd locker geknotet, die Messer dezent aber doch sichtbar am Lederriemen befestigt. Hände wie Manuel Neuer, mit denen zeigt er auf den Plan von Guédelon, so heißt die Burg. Sie wurde nach dem Wald benannt, in (und aus) dem sie entsteht. Der Standort ist ideal, weil er alle Materialien, die nötig sind, liefert: Es gibt einen Steinbruch, einen Eichenwald, Sand und Wasser. Die Transportwege sind kurz und der Baugrund fest genug, sodass er an keiner Stelle nachgibt. Wäre ja schade, wenn Guédelon später zu Pisa würde.

Seit 1997 laufen die Bauarbeiten. Korrekterweise müsste man sagen: seit Anno Domini 1228. Dies ist das Jahr, das die Bauherren als fiktiven Startpunkt bestimmt hatten. Inzwischen befinden wir uns also im Jahr 1245, und große Teile der Burg stehen bereits. Hein Koenen führt die Besucher über das Gelände. In einem hölzernen Behälter mischen zwei Handwerker Mörtel aus einem Teil Kalk und drei Teilen Sand an. Holzfäller fertigen Dachschindeln an. Zimmerleute entrinden abgelagertes Eichenholz mit Axt und Querbeil. In einem Laufrad, auch Hamsterrad genannt, kommt ein Arbeiter ordentlich aus der Puste. Laufräder sind die Kräne des Mittelalters, mit ihnen können Lasten von bis zu 400 Kilo gehoben werden. Der Fuhrmann zieht mit seinem Pferd das Holz aus dem Wald. Im Steinbruch wischt sich ein Mann den Schweiß von der Stirn. Wer in Guédelon arbeitet, kann sich das Fitnessstudio sparen. „Es gibt keine harten Steine. Es gibt nur zu weiche Arme“, sagt Hain Koenen. Im Mittelalter sah man nach der Arbeit im Steinbruch aus wie nach einem Kampf gegen Klitschko. Überall Wunden und blaue Flecke. So gefährlich soll es heute nicht sein. Beim Thema Sicherheit bleibt man lieber im 21. Jahrhundert. Alle Arbeiter tragen Stahlkappenschuhe, benutzen Schutzbrillen und einen Mundschutz, wenn erforderlich. Helme werden wegen der mittelalterlichen Optik mit Stroh kaschiert. Wer will, dürfte sogar Handschuhe benutzen. Tut aber niemand. Nicht mal bei der Arbeit mit Lehm. Schwarze Fingernägel sind der beste Beweis für einen ordentlichen Job. „Andere Leute zahlen viel Geld für Schlammbäder, die bekommen wir hier umsonst“, sagt Koenen, der am liebsten im Steinbruch arbeitet. Schade nur, dass er es nach acht Bandscheibenvorfällen langsamer angehen muss.

Keine Presslufthämmer, keine Bagger, kein Beton. Fällt es wirklich leicht, auf die mühsam errungenen technischen Erkenntnisse der letzten 750 Jahre zu verzichten? Wünschte man nicht manchmal, schneller voranzukommen? „Nein, wir haben überhaupt nicht den Eindruck, es ginge zu langsam. Letztens haben wir in einer Stunde 1000 Ziegel auf das Dach gewuppt“, sagt Koenen und erklärt weiter, dass es darauf aber gar nicht ankomme. „Es geht vor allem um die Wissensvermittlung.“ Jeder Handwerker muss die Fähigkeit haben, den Besuchern sein Tun zu erklären. Er ist also gleichzeitig ein Freiluft-Geschichtslehrer.

Zimmerleute, Maurer, Schmiede, Seiler, Korbmacher... Von den Mitarbeitern verfügen einige über eine qualifizierte Berufsausbildung, manche wurden erst vor Ort ausgebildet. Maryline Martin legte von Beginn an Wert darauf, nicht nur ein historisches, sondern auch ein soziales Projekt auf die Beine zu stellen, und engagierte viele Arbeitslose und junge Leute aus schwierigen Verhältnissen. Die Festangestellten erhalten Unterstützung von Freiwilligen. Jedes Jahr arbeiten ungefähr 700 Laien auf der Baustelle mit. Zwischen vier und sieben Tage dauert ihr Praktikum. Voraussetzung sind rudimentäre Französischkenntnisse und die Bereitschaft, genau die Aufgabe zu übernehmen, die der Bauleiter einem aufträgt. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Von 10 bis 19 Uhr wird geschuftet, mittags läutet eine Klingel zur einstündigen Pause.

Viele Freiwillige kommen regelmäßig – wie die drei Freunde Bertrand, Olivier und Frederic aus Nantes. Seit zehn Jahren packen sie jeden Sommer für eine knappe Woche mit an. Es seien die tolle Teamarbeit und die Begeisterung für das Mittelalter, die sie immer wieder nach Guédelon ziehen, erzählen sie, während sie ihre Zeitreise-Ausrüstung anlegen und die Errungenschaften der Neuzeit ablegen: Armbanduhr, Socken, Handy. Da es im Wald ohnehin keinen Empfang gibt, fehlt ihnen das Telefon auf dem Bau nicht wirklich. „Wir müssen einfach immer zu unserer Burg zurückkehren, weil wir sehen wollen, wie es weitergeht“, sagt Frederic, im echten Berufsleben Informatiker.

Wichtig in diesem Jahr sind die Fortschritte am Kapellenturm. Der Raum in der zweiten Etage hat ein Kreuzrippengewölbe mit Spitzbogen sowie eine Fassade mit einem kunstvoll gearbeiteten Maßwerkfenster. Eine technische Herausforderung für alle Gewerke von Guédelon, besonders aber für die Steinmetze. Abdalilah Abid behaut den weißen Kalkstein mit einem Spitzeisen. Ein paar Monate arbeitet der Marokkaner bereits hier, zurück in seiner Heimat will er in der Werkstadt nie wieder eine Maschine benutzen, sondern weiterhin mit der Hand arbeiten: „So erhalten die Steine eine Seele. Und schöner aussehen tun sie sowieso.“

Eine weitere wichtige Aufgabe wartet im Festsaal des Wohnhauses: 4000 Bodenziegel müssen geformt und gebrannt werden. Elsa aus Straßburg, eine Architekturstudentin, fettet dafür eine Form ein, presst den Lehm hinein und entfernt die Überreste. Knapp drei Wochen muss der Lehm auf Traggittern trocknen, dann wird er einen Tag lang im Ofen bei 1100 Grad gebrannt. Fertig. So einfach geht Mittelalter. Oder vielleicht doch nicht?

Ein Besuch ist wie das Lesen eines Geschichtsbuchs unter freiem Himmel

Die Wahrung der Authentizität sorgt immer wieder für Diskussionen. Zurzeit wird auf der Baustelle die Frage diskutiert, ob sich der fiktive mittelalterliche Burgherr Fenster hätte leisten können. Nein, denken Historiker und Archäologen. Viel zu teuer. Schon die kunstvolle Eisenverzierung am Eingangstor zum Bergfried, dem wichtigsten und höchsten Turm der Festung, sprengte sein Budget. Da hat der Schmied es also ein wenig übertrieben.

Alte Buchhaltungen oder Darstellungen auf Kirchenfenstern gehören zu den wenigen Quellen, auf die sich das Projekt stützen kann. Schriftliche Überlieferungen aus dem Mittelalter sind rar, doch alles, was als gesichert gilt, wird in Guédelon direkt umgesetzt. Die Hängebauchschweine, die neben Schafen und Gänsen herumlaufen, sind zum Beispiel nach ihrer dunklen Farbe ausgewählt worden, weil die Schweine im Mittelalter schwarz waren.

Auch eine kleine Holzburg, Motte genannt, wurde errichtet. Sie steht etwas abseits des Geländes, viele Besucher bemerken sie gar nicht. Für einen zufriedenstellenden Mittelalter-Rundgang scheint sie also entbehrlich zu sein, doch der Ausblicksturm gehörte zum Pflichtprogramm einer jeden Festungsanlage. Schließlich ging es im Mittelalter darum, sich zu verteidigen und vor potenziellen Angreifern rechtzeitig gewarnt zu sein.

An der Holzburg lässt sich die Geschichte des Burgenbaus nachvollziehen, sie ist sozusagen die Großmutter aller Burgen und der Startpunkt einer jeden Siedlung. Um sie herum ließen sich die Leute nieder. Nach und nach wurde das Holz des Turmes durch Stein ersetzt. Zuerst entstand ein steinernes Erdgeschoss – inzwischen wohnte man in dem Turm –, dann ein zweites und drittes, bis schließlich ein mächtiger Bergfried vor einem stand. In Guédelon wird er fast 30 Meter hoch sein, aktuell stehen 18 Meter. Es gibt noch einiges zu tun, aber wie man nach ein paar Stunden auf der außergewöhnlichen Baustelle festgestellt hat, geht es nicht um Schnelligkeit. Mittelalter entschleunigt.

Guédelon ist ein Geschichtsbuch unter freiem Himmel. Noch besser: Ein Besuch hier fühlt sich an, als würden Abbildungen, die man nur aus Büchern kennt, plötzlich aus diesen emporsteigen und zum Leben erweckt. Walt Disney und Alice im Wunderland hätte es gefallen an diesem Ort vor unserer Zeit.