In Unteruhldingen wird die Uhr um 6000 Jahre zurückgedreht. Das Pfahlbaumuseum zeigt, wie unsere Vorfahren in Stein- und Bronzezeit lebten. Besucher können den Geheimnissen ihrer Kultur auf den Grund gehen.

Unten im Museumsarchiv geht Gunter Schöbel durch die Regalreihen, greift hierhin, dorthin, dann zieht er Karton Nummer 116 hervor. In Plastik verpackte Donnerkeile liegen in der Box. „Tausende Jahre alte Vorläufer von Axt und Beil“, sagt Schöbel. Er stellt den Karton vorsichtig zurück und kramt gleich die nächsten Kisten hervor. Scherben steinzeitlicher Siedlungen lagern dort. Pfeilspitzen, Feuer-steinsplitter, Bruchstücke von Keramiktöpfen und Frauenstatuetten. Dann nimmt Gunter Schöbel einen bräunlichen Schlittknochen von den Borden, vermutlich die Kufe eines Steinzeit-Schlittschuhs. Fein säuberlich ist das Teil nummeriert: P-40416-32634.

„In unserem Archiv lagern 2,2 Millionen Einheiten“, sagt er. „Das alles auszuwerten dauert noch Jahrzehnte.“ Mit Einheiten meint der Archäologie-Professor Schöbel jene Fundstücke, denen er sein Leben gewidmet hat: die Zeugnisse einer lange unbekannten Kultur, die über Jahrhunderte auf dem Grund des Bodensees versunken lag. Schätze, verschluckt vom Schlamm.

Über 1000-mal ist Schöbel mit Pressluftflaschen im Bodensee abgetaucht, um Fundstellen zu sichern und Fragmente der frühen Siedler aus dem Modder zu schaben. Er promovierte auf dem Gebiet der Spätbronzezeit und hat einen Lehrauftrag an der Universität Tübingen, wo er mit Studenten die Geheimnisse der Ur- und Frühgeschichte lüften will. Vor allem aber leitet der Mittfünfziger das Pfahlbaumuseum in Unteruhldingen. Eine in Deutschland einmalige Stätte, die sich der bis zu 6000 Jahre alten Geschichte der Pfahlbauten aus Stein- und Bronzezeit verschrieben hat.

Am Bodensee kreuzt einsam ein Segelschiff über das weite graue Wasser, der Südwestwind bläst kleine Wellen ans Schilfufer, im Süden erheben sich die Alpen. Am Strand von Unteruhldingen, rund zehn Kilometer östlich von Überlingen, aber heften sich die Augen an etwas ganz anderes: 23 mitSchilfrohr gedeckte Holzhütten stehen dort auf dünnen Pfählen und verbunden mit schiefen Stegen im Wasser. Sie ragen aus den Fluten wie ein Lagunendorf in der Südsee. Die Pfahlbauten sind penible Rekonstruktionen, möglichst genaue Annäherungen an die Behausungen der Fischer und Bauern, die hier 4000 bis 800 Jahre vor Christus lebten. Die Besucher wandeln über die Stege und stehen mitten in einem bronzezeitlichen Dorf. Sie betreten die Hütte des Bronzegießers, sehen die Feuerstelle des Töpfers, können sich im Haus des Dorfoberhauptes von einst umschauen. Verzierte Tongefäße stehen dort, prunkvolles Pferdegeschirr hängt an den derben Holzwänden, daneben Speerspitzen, Schafsfelle auf den Betten. Ein seltsames Wesen ziert den Raum, halb Stier, halb Vogel, gegossen aus Bronze. Alles Beweise dafür, dass die Menschen aus jener Zeit keinesfalls keulenschwingende Haudraufs waren, sondern bereits raffinierte Jäger und Landwirte, die sogar eine eigene Mythenwelt ersonnen hatten.

Das begehbare Stelzendorf ist nur ein Teil des Pfahlbaumuseums. Unten im Hauptgebäude macht moderne Technik die Faszination der Forschung erlebbar: Das sogenannte Archaeorama ist eine in drei Räume gegliederte „Erzählmaschine“ – eine Mischung aus Labor, Taucherkammer, Rundumkino und Multimedia-Fläche, durch die der Gast hindurchläuft. Zunächst lauscht man den Stimmen von Tauchern, sieht die Gerätschaften der Unterwasserarchäologen. Nur einige Schritte weiter taucht man selbst ab. Auf die Wände und Decken eines geschlossenen Raums wird das Unterwasserreich des Bodensees projiziert. Es gurgelt, Wellen plätschern, dann wird der Raum optisch geflutet – alles läuft blau an. Der Besucher sinkt quasi hinunter, reist unter die Oberfläche des Sees. Er sieht den Bronzezeitmenschen beim Pfahlbau zu, beim Jagen und Fischen.

Dann wechseln die Bilder, zeigen ein Szenario, das Tausende Jahre später spielt: Nun schwimmt der Betrachter Seite an Seite mit Forschungstauchern über den Grund und kann sehen, was nur wenige Meter weiter unten im See tatsächlich noch heute aus dem Boden ragt – und 2011 zum Welterbe der Unesco erklärt wurde: ein Feld von hölzernen Stümpfen, senkrecht im Matsch stehend. Ein paar Stümpfe in zwei bis fünf Metern Tiefe? Mehr nicht? Das sollen Meilensteine der Menschheitsgeschichte sein?

Wer das verstehen will, muss wissen, was im Winter 1853/54 geschah. Damals stand an einigen Voralpenseen wie dem Zürichsee das Wasser besonders niedrig. Seltsame Stumpen ragten plötzlich empor. Als die Schilfebenen an den Ufern schließlich trockenfielen, stachen sie zu Hunderten aus dem Boden – überall dunkle Stümpfe. Das Phänomen kam einem Mysterium gleich. Die Leute strömten herbei und rätselten: Was in Gottes Namen war das?

Es gab verschiedene Theorien. Einige hielten die vermoderten Stämme für Reste phönizischer Handelskolonien, andere erkannten darin alte römische Häfen, versunkene Siedlungen der Kelten oder Germanen. Der Lehrer und Altertumsforscher Ferdinand Keller untersuchte schließlich die kuriosen Pfosten und gab bald erste „Pfahlbauberichte“ heraus. 1856 schrieb er: „Aus einer Reihe von Entdeckungen ist nämlich die Tatsache hervorgegangen, dass in frühester Vorzeit Gruppen von Familien, (…), die sich von Fischfang und Jagd nährten, (…), am Rande der schweizerischen Seen Hütten bewohnten, die sie nicht auf trockenem Boden, sondern an seichten Uferstellen auf Pfahlwerk errichtet hatten.“

Tatsächlich lebten diese frühen Siedler nicht nur am, sondern auch auf dem Wasser. Im Hinterland wucherte dichter Wald, dort lungerten Feinde, wilde Tiere. Von ihren Wasserhütten aber blickten sie über den weiten, offenen See, hier konnten sie besser fischen und Einbäume nutzen, um mit anderen Pfahlbaudörfern Handel zu betreiben.

Ferdinand Keller beschäftigte sich mit dieser bisher unbekannten Lebensform. Er prägte den Begriff der Pfahlbauten, wurde zum Vater der Pfahlbauforschung – und ahnte nicht, was er damit lostrat. An den Seen begannen die Menschen in Scharen, nach Überbleibseln dieser alten Zeiten zu suchen. Fischer pflügten den See durch, Bauern übten sich als Schatzsucher. Überall fanden sie bald Pfeile, Keile, Steinwerkzeuge, Schwerter und Schmucknadeln, die im Schlick steckten. Eine Sammelwut brach aus, am Bodensee und an anderen Orten des Voralpenraums, wo ebenfalls Rudimente sogenannter Feuchtbodensiedlungen entdeckt wurden, etwa am Federsee in Oberschwaben, am Mondsee in Österreich, in der Schweiz am Greifensee, im Wauwilermoos oder am Pfäffikersee im Zürcher Oberland.

Die Auswirkungen der Funde waren enorm. „Die Menschen sahen ihre eigene Historie plötzlich mit anderen Augen, sie fanden zu einer völlig neuen Identität“, sagt Schöbel. Denn bisher hatten die Menschen an die Version der klassisch-humanistischen Geschichtsschreibung geglaubt, nach der die Kulturen ihren Ursprung in Rom und Athen hatten. Nun aber fanden sie Spuren einer eigenen Historie – hier am Bodensee, direkt vor der Haustür.

Anfangs war es ein großes Wühlen in der eigenen Vergangenheit, unkoordiniert und ohne Plan. Im Laufe der Jahrzehnte wurde immer systematischer und mit neueren Techniken geforscht. Was dabei zutage getreten ist, nennt Schöbel ein „Lesebuch in schwarzen Schichten aus Erde und Schlamm“. Die Kultur der alten Pfahlbaubewohner tauchte förmlich aus dem Bodensee empor. Heute sind hier mehr als 100 Fundstellen bekannt.

Der einstige Untergang war ein Geschenk. Denn die sauerstoffarme Umgebung im Schlick konservierte all die Trouvaillen. Alte Textilreste, durchlochte Bärenzähne und Bronzebeile, sogar Haselnüsse, verkohlte Äpfel und Brotreste aus der Jungsteinzeit kamen zum Vorschein. Die Stümpfe im See, so Schöbel, sind lediglich die Spitze des Eisbergs, aber bis heute eine unschätzbare Entdeckung. „Sie zählen zu den drei archäologischen Big Points Deutschlands.“ Nur die Wikinger-Fundorte bei Schleswig und das Neandertal bei Düsseldorf besäßen einen ähnlichen Stellenwert.

Das Stochern in der Urzeit löste einen regelrechten Hype aus: Großflächige „Schürfungen“ wurden an den Seen vorgenommen – bis Schutzgesetze erlassen wurden. Heute lagern viele der Funde in Museen von London über Paris bis St. Petersburg. Über 1100 Siedlungsreste in Europa sind bekannt. Schöbel: „Es tat sich eine Riesenkiste auf, ein Teil der Menschheitsgeschichte musste neu geschrieben werden.“

Diese Geschichte kann heute hautnah erleben, wer das Museum besucht. Zwar ruhen viele der Originalfunde zur Forschung in den Archiven. Doch haben Fachhandwerker – Bronzegießer, Seilmacher, Steinmetze – die alten Teile nachgebaut und das Leben von einst damit so genau wie möglich reinszeniert. In den Häusern sieht man, wie die Menschen mit ihren Wollschweinen, Kühen und Schafen lebten. Eine Bäuerin der Jungsteinzeit rührt Getreidebrei an, Fischer wetzen Speere, knüpfen Reusen. An den Wänden der Hütten hängen Bärenfelle, da wird Leder gegerbt und der Feuerstein beschmirgelt. Natürlich sind auch Originale zu sehen. In Vitrinen liegen die Klauen von Bibern und Wildschweinen, mit denen damals die Waffen bestückt wurden. In 3600 Jahre alten Topffragmenten sind eingebrannte Breireste zu erkennen. Man sieht Feuersteinkeile und Holunderholzflöten, 3000 Jahre alte Schädel und 5800 Jahre alte Exkremente, die tief auf dem Grund des Sees überdauert haben. Allesamt Nuggets der Zeitgeschichte, ohne die die Europäer heute nicht wüssten, wie ihre Vorfahren arbeiteten und schliefen, wohnten und jagten.

Das Museum am stillen Ufer von Unteruhldingen kommt ohne staatliche Hilfe über die Runden. Besucher reisen selbst aus Japan und Amerika an, vor allem aber kommen Menschen aus Deutschland und der Region selbst hierher, bis zu 300.000 Gäste im Jahr. Und Direktor Schöbel kann mit einer hohen Zahl aufwarten: Seit seiner Gründung am 1.August 1922 hat das Museum gut 13,5 Millionen Besucher gezählt.

Worin aber liegt der Reiz, sich in die alten Zeiten zu vertiefen? „Es geht um die alte Sinnfrage: Woher kommen wir, wohin gehen wir? Es ist die Sehnsucht nach einer tieferen Verortung, die wir alle in uns tragen.“ Gunter Schöbel sagt’s und stellt die Kartons Nummer 151 und 152 zurück in das Regal. Beile, Keramikscherben und Bronzemesser lagern darin, ein menschlicher Schädel mit Unterkiefer. Es sind jüngere Funde aus den vergangenen Jahrzehnten, und es kämen immer neue hinzu. „Noch immer liegen ein paar Tausend Jahre Menschheitsgeschichte unten im See vergraben.“ Schöbel kratzt sich am Hinterkopf. „Es nimmt gar kein Ende.“

Der Artikel wurde dem aktuellen „Merian Bodensee“ entnommen, das für 7,95 Euro im Handel erhältlich ist