„Tirol meets India“ verspricht das Ayurveda Resort Sonnhof. Gäste, die ins österreichische Thiersee reisen, suchen einen neuen Impuls für ihr Leben.

Die Diagnose ist erschütternd: „Es ist keine Energie mehr da, das Feuer ist quasi erloschen.“ Dazu kommen kalte Hände und Füße, Rückenschmerzen, knackende Gelenke, schlechter Schlaf. Und die Schilddrüse sollte dringend mal untersucht werden, rät mir Dr. Sharma, Arzt aus Nordindien und seit 2007 Ayurveda-Spezialist im Sonnhof Resort, bereits nach fünf Minuten Konsultationsgespräch. Dabei hat er lediglich Augen, Gesicht und Zunge betrachtet sowie den Puls gefühlt. Erschöpft von einer achtstündigen Bahnfahrt von Hamburg nach Kufstein und einem kurzen Rundgang durchs Hotel bin ich also im Behandlungszimmer von Dr. Sharma gelandet und finde das Szenario ziemlich merkwürdig. Ayurveda in den Alpen, war das vielleicht doch keine so gute Idee? Immerhin hatte eine Kollegin noch vor der Abreise kritisiert, eins davon sei ja wohl genug, entweder die Berge oder Ayurveda. Und außerdem sollte man doch, wenn überhaupt, eine Ayurveda-Kur im Ursprungsland, also in Sri Lanka machen.

Aber ich wollte aufgeschlossen sein, etwas Neues ausprobieren. Was also will mir dieser Mann mit der monotonen Stimme und den durchdringenden Augen hinter der eleganten Brille sagen? Und fühlt er sich nicht fremd, als Inder in Österreich, so weit von seiner Heimat entfernt? „Nein“, antwortet er. Schließlich seien hier auch Berge, genau wie in Indien, außerdem besuche er achtmal im Jahr seine dortige Familie. Und er liebe seinen Beruf, sonst würde er ihn nicht ausüben. Essen, schlafen, lieben – auf diese Formel bringt Dr.Sharma seine Existenz, und man muss unweigerlich an den Kitschfilm „Eat, pray, love“ denken, in dem Julia Roberts durch Italien, Indien und Bali reist, um ihr Glück zu finden.

So komisch man das Erstgespräch mit Dr. Sharma finden mag – als Gast im Sonnhof Resort kommt man nicht drum herum, egal ob man eine zweiwöchige Kur oder bloß ein Schnupper-Wochenende verbringt. Das Konsultationsgespräch ist die Basis für alle weiteren Behandlungen der Pancha-Karma-Kur, die der Arzt konzipiert und sich damit zum Superstar von Thiersee gemacht hat; mit ihm wird auf einem großen Plakat an der Hauswand, in der Hotelbroschüre und im Internet geworben. Sein Urteil ist unumstößlich: Ich soll ein Vata-Pitta-Typ mit trockener Haut und zu vielen Gedanken im Kopf sein – festgestellt allein durch Händchenhalten.

Ein Erlebnis, das Johann Mauracher als sein Schlüsselmoment bezeichnet, wenn er gefragt wird, warum er aus dem schnuckeligen Alpenhotel, das besonders bei Skilangläufern beliebt war, ein Zentrum für Ayurveda machte – und mit all seiner bisherigen Stammkundschaft brach. „Ich las ein Buch des Ayurveda-Experten Rainer Schacker und war fasziniert, was man alles anhand der Pulsdiagnose feststellen und behandeln kann“, sagt der Inhaber des Sonnhof Resorts. Dieses Schlüsselerlebnis ist zwölf Jahre her. Seitdem hat sich Johann Mauracher intensiv mit der indischen Lehre beschäftigt und gut fünf Millionen Euro in den Umbau des Hotels investiert. Im Juni 2012 war dann Wiedereröffnung und die Geburt des Ayurveda Resorts.

Von außen sieht man dem Sonnhof die wundersame Verwandlung nicht an, das Hotel hat den urigen Charme einer Bauernstube behalten, mit schnörkeligen Spitzgiebeln und dunkler Holzverkleidung. Die Buddhafiguren im „Energiegarten“ sind durch den anhaltenden Nebel kaum zu erkennen. Doch schon beim Eintreten wird ziemlich schnell klar, dass die Uhren hier anders ticken. Der Duft von Sandelholz, erzeugt durch Räucherstäbchen, wabert allgegenwärtig durch die Hotelflure, in der Lounge wechselt die Beleuchtung täglich je nach Planetenkonstellation, im Anmeldebogen wird der Gast nach seinem Sternzeichen befragt, und auf den Zimmern ist selbstverständlich kein WLAN – man soll und will ja schließlich abschalten. Im Internet zu surfen, so ist ausdrücklich in der Anleitung für eine gelungene Ayurveda-Kur zu lesen, ist dem Behandlungserfolg nicht zuträglich. Ebenso wie Genussmittel aller Art und zu viel Bewegung.

Es sei nicht einfach gewesen, die Gäste sowie die Bewohner des Dorfes vom neuen Konzept zu überzeugen, sagt Tochter Lisa Mauracher, im Hotel für Yoga und Rezeption zuständig. Bei einem Spaziergang durchs Dorf kann man sich gut vorstellen, wie die Thierseer die Fensterläden ihrer riesigen Höfe erst einmal zuklappten und auf Durchzug schalteten. Umso mehr, wenn man im Hinterkopf hat, dass Thiersee nicht weit entfernt liegt vom Silbertal, jenem Bergdorf, in das bis vor Kurzem noch keine einzige Straße führte. Aber mittlerweile sei nicht nur der Verkehr, sondern auch Ayurveda in der Region angekommen. „Passt“, sagt die junge Frau im stets adretten Kostüm, deren zackige Betriebsamkeit allerdings nicht so recht mit der indischen Achtsamkeit harmoniert. Wer als Kurgast Fragen zum Ablauf hat, und es gibt da eine Menge Fragen, wird kurz und bündig bedient. Die Gäste scheint dies aber nicht zu stören. Mild lächelnd begegnet man sich am Frühstücksbüfett, wobei jeder schön für sich bleibt – so ist es gewünscht. „Um sich ganz auf sich zu konzentrieren, muss man zur Ruhe kommen“, sagt Johann Mauracher. Dazu gehört es ebenfalls, das Essen bewusst zu genießen, auch mal in völliger Stille. So dämpft er denn den Elan der ankommenden Gäste, die die Umgebung mit dem E-Bike erkunden wollen oder eine Skitour ins 40 Kilometer entfernte Kitzbühel planen. „Eine Kur ist schon genug Umstellung für den Körper, da braucht es keine weitere Ablenkung.“ Die Tiroler Berge – nicht mehr als eine Kulisse.

Es bleibt ohnehin wenig Zeit und Kraft, um nach draußen zu gehen. Termine, Termine! Nach dem Salzpeeling geht’s in die Kapha-Sauna zum intensiven Schwitzen und anschließend zur Ganzkörpermassage. 13 Ayurveda-Therapeuten kümmern sich um die Gäste, einige kommen aus Sri Lanka, was ein riesiges Plus des Hotels ist. Ihnen ist die Lehre in Fleisch und Blut übergegangen, mit viel Hingabe und Fröhlichkeit kneten und ölen sie verspannte Rücken, Arme und Beine. Nach dem Stirnölguss sagt Therapeut Anura, dass es auch für ihn eine große Freude war. „Wir haben uns gut verstanden, das ist sehr wichtig für eine gelungene Massage.“ Ebenso wie viele seiner Kollegen sei er sehr stolz darauf in Österreich zu arbeiten. Ob er in Thiersee auch wohne? „Ja, Thiersee. Das ist tatsächlich sehr, sehr klein“, lächelt Annua. „Und immer gleich.“

Für Abwechslung sorgen höchstens die Gäste. Es sind schicke Mittsechzigerinnen mit Hang zur Esoterik und auffallender Mode, aber auch gestresste Geschäftsleute oder Menschen mit Übergewicht, die nach Thiersee reisen. Sie alle eint das Ziel, sich nicht bloß zu erholen, sondern vielmehr dem Leben einen neuen Impuls zu geben. Die 36-jährige Mirjam aus München zum Beispiel beschäftigt sich schon seit Jahren mit spirituellen Lehren und wollte das Ayurveda-Resort einfach mal ausprobieren. Anders ihre Freundin Sandy aus Berlin: „Sie fährt wie viele Leute nach Sri Lanka, um bei einer Kur ordentlich abzuspecken. Bis zu sieben Kilo soll man verlieren können.“ Aber auch Diabetes, Rheuma und Bluthochdruck könne man mithilfe von Ayurveda in den Griff bekommen, so Johann Mauracher. „Ärzte haben heutzutage oft keine Zeit mehr, die Grunderkrankungen zu behandeln, geschweige denn, sich ausgiebig ihren Patienten zu widmen. Die Menschen, die zu uns kommen, suchen nach einer Alternative“, sagt er.

Zudem sei die Lehre, die aus dem indischen Sanskrit stammt und übersetzt „das Wissen vom Leben“ heißt, sehr gut nachvollziehbar, vielleicht besser als die Schulmedizin. Basierend auf den fünf Säulen Luft, Wasser, Feuer, Erde und Äther, was so viel heißt wie Universum, werden die Menschen in drei Energietypen eingeteilt, nämlich Vata, Pitta und Kapha, auch Doshas genannt. Der eine ist ständig in Bewegung, braucht also Erdung. Der andere wiederum ist eher träge, benötigt dementsprechend Power für Kreislauf und Stoffwechsel. Wer ständig friert, braucht heiße Speisen und Getränke. Es gilt, den Energiehaushalt in Einklang zu bringen, vor allem durch eine typgerechte Ernährung. Denn das ist laut Ayurveda-Lehre das Allerwichtigste. Ist der Fluss im Körper gestört, kommt es zu Beschwerden und Krankheiten. Um dies zu verhindern, greift die Ayurveda-Therapie bestenfalls schon vorzeitig ein. Auch die Sinne, also Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen, werden dabei mit einbezogen. Die Gäste, die sich auf diese Weise ganzheitlich behandeln lassen wollen, kommen aus Österreich, viele aus Wien, aber auch aus München, und sogar aus Norddeutschland, obwohl die Anreise – ob mit Flugzeug, Auto oder Zug – mindestens einen halben Tag in Anspruch nimmt (was aber im Vergleich zur Anreise nach Sri Lanka und der damit verbundenen klimatischen Umstellung ein Witz ist, gerade einmal 900 Höhenmeter müssen die Gäste in Thiersee bewältigen). Die Nachfrage ist zumindest groß. Neben Traben-Trarbach und Bad Ems hat sich das Sonnhof Resort zum Pionier in der europäischen Ayurveda-Szene entwickelt, die zehntägige Pancha-Karma-Kur ist der Klassiker im Resort, sie kostet 1900 Euro – ohne das Zimmer –, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Ernährung gelegt wird (ebenso wie Dr. Sharma kommt auch der Küchenchef aus Indien).

Ergänzt wird das Programm durch Anwendungen, Yoga, Meditation, Bäder und Massagen. Der Kurgast ist also rund um die Uhr damit beschäftigt, in sich hinein zu hören, zu fühlen, zu schmecken. Die Welt da draußen, das im Föhn versinkende Thiersee, Tirol, die Berge, Familie, Arbeit, all das rückt in den Hintergrund. Was zählt, bin ich – eingehüllt in den Duft von Sandelholz.

„Endlich“, sagt Dr. Sharma. Denn das sei eben das Dilemma vieler moderner Frauen. „Vor lauter Aufgaben und Pflichten sehen sie sich nicht mehr selbst. Sie sind Tochter, Partnerin, Mutter, kümmern sich um die Familie, haben einen Job – und wo bleiben Sie bei alldem?“ Was folgt, sind ziemlich intime Fragen in scheinbar willkürlicher Abfolge. Rauchen Sie? Haben Sie Geschwister? Neigen Sie zu Ungeduld? Wie steht es um Ihr Liebesleben? Ein bisschen fühlt man sich einem Lügendetektor ausgesetzt, und so antwortet man pflichtbewusst auf jede noch so irritierende Frage. Dr. Sharma nickt und macht sich Notizen. Weiß er denn nicht sowieso schon alles?

Zum Schluss verschreibt er eine höllisch scharfe Gewürzmischung sowie indischen Weihrauch in Form von Kapseln und gibt Tipps für den Alltag, also für das Leben nach der Ayurveda-Kur. „Den Kühlschrank können Sie meinetwegen wegwerfen, kaltes Essen ist nicht gut für Sie.“ Ebenso könnte ich mich auch von meinem gesamten Bücherregal trennen, dafür besser in eine Stereoanlage investieren („Musikhören bei geschlossenen Augen ist für Kopfmenschen besser als lesen“). Rotwein ist wegen der Temperatur besser als Bier oder Weißwein, und Yoga erdet mehr als Pilates. Es ist schon erstaunlich, wie viel Unrecht man seinem Körper tun kann, wenn man verlernt hat, auf ihn zu hören. Dass es ein Gewinn und kein Verlust ist, sich von jahrelang bestehenden Gewohnheiten zu trennen, wird einem nun auch in ganz banalen Situationen klar. Statt wie üblich beim Frühstück zu Joghurt mit Müsli zu greifen, füllt man sich nun lieber gedünstetes Obst auf den Teller und trinkt den gefühlt 100. Kräutertee, Sorte „Lebensfreude“ (wer braucht morgens schon Kaffee?). Der Koffer wird mit Bedacht gepackt – und nicht wie sonst in allerletzter Minute. Die Haut ist samtig, die Muskeln geschmeidig.

Die Tiroler Berge, sie mussten leider draußen bleiben an diesem Wochenende. Dafür hat sich das jahrtausendealte Wissen vom Leben still und leise ins Bewusstsein gepflanzt. Wer sich auf die Rituale einlässt, kann viel durch Ayurveda lernen, egal ob man die Kur in den Alpen oder in Sri Lanka macht. Und irgendwann, das ist sicher, wird auch das Feuer zurückkommen.