Hamburgs Partnerstadt St. Petersburg ist die zweitgrößte Stadt des Landes und verfügt über einen der wichtigsten russischen Häfen. Weitere Gemeinsamkeit: eine Kneipe, wie es sie auf dem Kiez ebenso gibt.

So richtig erkennen, was hinter der schreddeligen Tür los ist, kann man nicht. Aber da steht in kyrillischen Buchstaben „Dacha“, das könnte „Datscha“ heißen. Die beiden Männer links und rechts vom Eingang nicken nur kurz, man tritt ein, und es ist plötzlich alles ziemlich vertraut. Ein langer Tresen, Blümchentapete, abgewetzte Polster und Jan Delay aus dem Lautsprecher, eine Kneipe wie es sie auch auf St. Pauli geben könnte. Ist aber St. Petersburg, Russland.

Mittendrin sitzt Anna-Christin Albers auf einem Barhocker und raucht. Sie kommt aus Hamburg, ist 38 Jahre alt und lebt seit zehn Jahren an der Newa. „Damals gab es hier nur Bierlokale oder Läden mit Striptease-Tänzerin. Aber nichts, wo man als Frau allein hingehen konnte“, sagt sie. Kurz entschlossen machte Anna, wie sie hier alle nennen, die „Datscha“ auf. Seitdem wird hier jeden Tag gefeiert und getanzt, oft bis zum frühen Morgen. Viele junge Leute kommen, auch Ausländer – eine bunte Mischung. Es gibt klare Beats und ein großes Bier für 120 Rubel (drei Euro), aber keinen Schickimicki. Das Konzept funktioniert. Rundherum hat sich eine Szene mit 16 Clubs und Bars etabliert.

„Ich mache keine deutsche Kneipe für Russen, sondern als Deutsche eine Kneipe in Russland“, sagt die Wirtin, die schon am Hamburger Berg hinterm Tresen stand. Während ihres Slawistik-Studiums war sie zum ersten Mal nach St. Petersburg gekommen und danach immer wieder. „Die Stadt hat mich gepackt.“ Viel Wasser und Weite, dazu die beeindruckende Architektur – die Faszination habe bis heute nicht nachgelassen. Zwar wirke der Ton der Russen für deutsche Ohren manchmal etwas rüde. „Aber wenn das überwunden ist, sind sie oft offener und interessierter. Und bedingungslos gastfreundlich“. So wie Anna das sagt, versteht man, dass sie angekommen ist. Sie ist so etwas wie inoffizielle Botschafterin Hamburger Kneipenkultur und eine der wenigen Frauen in der Petersburger Szene. Außer der Datscha betreibt sie gemeinsam mit einem russischen Geschäftspartner die Karaoke-Bar Poison, in der es Rock ’n’ Roll zum Mitsingen gibt, und Dünen, eine Art Beach-Club in einem Hinterhof am Ligowski-Prospekt.

Da scheint nah, was mehr als 20 Jahre nach dem Ende der UdSSR immer noch ziemlich fern ist. Zumindest für diesen Moment. In der Fünf-Millionen-Einwohner-Metropole ist vieles möglich. Und man kommt aus dem Staunen nicht raus. Petersburg ist eine Stadt im Aufbruch und eine Stadt der Gegensätze. Überraschend, schön – und fordernd. Keine 100 Meter von der Datscha entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des Prachtboulevard Newski Prospekt, taucht man in eine ganz andere Welt. Prachtvolle Fassaden, glitzernde Lichter, ganz viel Tradition.

Vor dem pompösen Eingang des Grand Hotel Europe steht Nikolai Sezebziakov. Die Uniform mit den goldenen Beschlägen sitzt perfekt, mit einem Lächeln öffnet der Portier die hohen Türen des 1825 erbauten Luxushotels. Egal ob man in einer der historischen Suiten wohnt, sich in der einzigen Caviar-Bar der Stadt von einem Wodka-Sommelier verkosten lässt oder für einen Drink in die Lobby-Bar im Art-nouveau-Stil kommt, der 63-Jährige begrüßt jeden mit der gleichen ausgesuchten Höflichkeit. Er sehe sich als Darsteller, sagt der Portier, der in der Vor-Perestroika-Zeit als Maschinenbau-Dozent an der Universität gearbeitet hat, dann arbeitslos wurde. Jetzt ist der Eingangsbereich des Fünf-Sterne-Hauses seine Welt.

Drinnen hört man leise ein Jazz-Quintett, Gläserklirren. Champagner oder Wodka? An einem Sonntagmittag kann so eine Frage eine echte Herausforderung sein. Für die meisten anderen, die zum Brunch ins Grand Hotel gekommen sind, scheint das gar kein Problem zu sein. Champagner ist das Getränk der Wahl, die Stimmung schon um 13 Uhr prächtig. Einst dinierten hier die Zaren und Russlands Nationaldichter Dostojewski, später trafen sich Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und der russische Staatspräsident Wladimir Putin im Separee. Heute sitzt am Nachbartisch ein Endfünfziger mit schwarz gefärbtem Haar, an jeder Seite eine junge Frau mit Schuhen, auf denen man sich nicht mal vorstellen will, zum exquisiten Büfett zu gehen – geschweige denn zurück. Eine russische Familie hat sich versammelt und lädt löffelweise Kaviar auf die Teller. Ein Pärchen guckt sich am Zweiertisch verliebt in die Augen. 5000 Rubel kostet der Event pro Person, 120 Euro, und er ist bei Petersburgern und Touristen gleichermaßen beliebt.

Das legendäre Hotel ist längst selbst eine Sehenswürdigkeit, ein kulturelles Wahrzeichen, das den Glanz der Zarenzeit heraufbeschwört. Und um das sich Geschichte und Geschichten ranken. Eine spielt in den Wirren des Revolutionsjahrs 1917. Zar Nikolai II hatte am 15. März zugunsten seines jüngeren Bruders, Großfürst Michail von Russland, abgedankt. Kaum war dieser als Michail II. ausgerufen worden, sollen die Soldaten vor seiner Suite gestanden und den neuen Zar im Grand Hotel arretiert haben. Einen Tag später erklärte er seinen Amtsverzicht – als wirklich allerletzter Zar.

In welchem der 212 Zimmer und 89 Suiten des heutigen Hotels sich das abspielte, ist nicht überliefert. Aber eine andere Besonderheit. In Petersburg, wo nach einer Verordnung von Katharina der Großen kein Haus höher sein durfte als der Winterpalast, bekam das Grand Hotel dank der guten Beziehungen zur Zarenfamilie 1908 eine Ausnahmegenehmigung für ein fünftes Stockwerk. Von dort hat man heute einen fantastischen Blick auf den Platz der Künste, das Russische Museum und die Christi-Auferstehungskirche mit ihren farbenprächtigen Zwiebeltürmen. Vor allem aber sieht man, wie St. Petersburg sich herausputzt. Die Stadt, die sieben Jahrzehnte nach dem Revolutionär Lenin benannt war, sucht ihre Zukunft. Und schwelgt, 310 Jahre nachdem Peter der Große sie als Brückenkopf nach Europa gründete, in einer Wiedergeburt vergangenen Prunks – und der Tradition.

„Dawaj, dawaj.“ Stadtführerin Svetlana Alexandra Ivanowa winkt energisch. Man weiß nicht genau, ob sie einfach nur meint, dass die Zeit drängt, oder ob es ihr um mehr geht. Schließlich stehen wir vor einem der prachtvollsten Kunstmuseen der Welt, der Eremitage. „Dawaj, dawaj“, das kann auch bedeuten: Lasst euch jetzt ein auf die Welt der Zaren, die Geschichte des Russischen Reichs. Gleich hinter der Kasse geht es über die Jordan-Treppe mit viel Gold und weißem Carraramarmor mitten hinein ins Imperiale der Zeit von Katharina der Großen. „Das zeige ich besonders gern“, sagt Svetlana, und man hört den Stolz in ihrer Stimme. Die Eremitage ist nationales Heiligtum. Um die mehr als 1000 Säle mit 60.000 Kunstschätzen zu sehen, muss man 25 Kilometer gehen.

Petersburger betonen solche Superlative gern, vor allem im Wettstreit mit der Hauptstadt Moskau. Wahrscheinlich haben sie auch recht, wenn sie sagen, Petersburg ist die schönste Stadt Russlands – auf jeden Fall die mit der meisten Kultur. Jedes Jahr zieht der einstige Zarensitz mehr als fünf Millionen Touristen an, 20.000 aus Deutschland. Beliebteste Reisezeit ist der Sommer. Aber auch jetzt im Petersburger Winter, wenn es nur 700 Kilometer vom Polarkreis entfernt morgens erst nach 10 Uhr richtig hell wird, ist ein Besuch reizvoll, vor allem bei Schnee.

Nicht ganz unwichtig: Man muss fast nie Schlange stehen. Zum Beispiel an der Peter-Paul-Festung, Keimzelle der Stadt, wo in der ältesten Kathedrale Petersburgs die Romanow-Zaren begraben sind. Seit 1998 sind hier die Gräber der Familie von Nikolai II., die 1918 in Jekaterinburg erschossen wurde.

Selbst ein Besuch im Mariinski-Theater, dessen Ballett internationalen Rang hat, ist ohne langen Vorlauf möglich. Seit Kurzem hat das 130 Jahre alte Haus zudem eine sehenswerte zweite Spielstätte in einem modernen Ensemble mit viel Glas. Und auch das sagenumwobene Bernsteinzimmer im Katharinenpalast in Puschkin, 25 Kilometer vor den Toren der Stadt, kann man ohne Wartezeit bestaunen – sowie den Großen Saal, der mit übergroßen Spiegeln und üppigem vergoldeten, barocken Schnitzwerk an den Spiegelsaal in Versailles erinnert.

In Russland ist alles immer ein bisschen zu groß und zu viel. Und St. Petersburg ist verschwenderisch. Allein 500 Adelspaläste gibt es in der Innenstadt. Viele sind inzwischen aufwendig restauriert, manche öffentlich zugänglich. Wie der Schuwalow-Palast an der Nabereschnaja Reki Fontanki 21, in den der russische Unternehmer Viktor Wekselberg 40 Millionen Dollar steckte. Im Januar 2014 wird die Sammlung seiner kulturhistorischen Stiftung „Verbindung der Zeiten“ mit 4000 Kunstschätzen eröffnet, darunter neun Fabergé-Eier aus dem früheren Besitz des amerikanischen Millionärs Malcom Forbes. Nicht weit entfernt, im ersten Ladengeschäft des berühmten Zarenjuweliers, liegen die Preziosen auch zum Verkauf.

Was man hat, kann man zeigen. So ist das in Russland – auch im normalen Leben. Auf innerstädtischen Boulevards sieht man viel Pelz, große Shopping-Malls mit den Läden internationaler Marken sind brechend voll, und über breite Straßen rasen schwere SUV mit getönten Scheiben auch schon mal mit 100 Stundenkilometern. Bettler oder Obdachlose sind von hier verbannt. Das ist die eine Seite. Die andere kann man entdecken, wenn man sich in die Metro oder – noch abenteuerlicher – die Straßenbahn setzt und ein Stück fährt.

80 Prozent der Petersburger leben in gigantischen Wohnsilos außerhalb der prachtvollen Innenstadt. Auch Stadtführerin Svetlana wohnt dort, gemeinsam mit Tochter und Enkelin. Die Rentnerin ist in Petersburg geboren, hat hier russische Sprache studiert und ihre drei Kinder großgezogen. Jetzt bekommt sie 12.000 Rubel Rente (etwa 300 Euro) und führt Touristen durch die Stadt. Sie macht das gern, sagt sie. Svetlana liebt St. Petersburg, und ihre Begeisterung ist ansteckend. Immer wieder kommt sie auch auf Hamburg zu sprechen, einmal hat sie die 1500 Kilometer entfernte Partnerstadt besucht. Es habe ihr gut gefallen, sagt die Petersburgerin und lächelt fein. Die Elbe ist ihr in Erinnerung geblieben, der Michel und dass Hamburg genau wie St. Petersburg zweitgrößte Stadt des Landes ist.

„Es gibt Ähnlichkeiten, aber hier ist alles viel extremer“, sagt Grenzgängerin Anna Albers, die inzwischen an der Newa zu Hause ist. Mit Freund und zwei Katzen wohnt sie in einer kleinen Altbauwohnung in einem Arbeiterviertel nahe dem Zentrum. Wenn sie nach Hamburg fährt, fällt ihr auf, dass die Deutschen mehr nörgeln und viel langsamer Auto fahren. Anna lacht. Inzwischen sind die meisten Plätze in der Datscha besetzt. Viele Gäste begrüßt die Kneipenwirtin mit Küsschen. Sie hat ihren Platz gefunden. In den nächsten Wochen will sie nicht weit entfernt eine Art Barbecue-Imbiss eröffnen. Eine zweite Karaoke-Bar ist bereits eröffnet, vielleicht wird es sogar eine ganze Kette. Sie interessieren Dinge, die es noch nicht gibt, sagt sie. In Hamburg ginge das nicht. „Da gibt es schon alles.“