Die US-Metropole am Michigansee ist die Geburtsstätte der Wolkenkratzer. Hier ist alles einige Nummern größer als woanders

Diese Kuh hat einen Orden verdient. Manche würden sie am liebsten sogar heiligsprechen. Und das, obwohl sie großes Unheil über die Stadt gebracht hat. Es ist der 8. Oktober 1871. In der Scheune von Patrick und Catherine O’Leary bricht ein Feuer aus, das in der Folge fast die ganze Stadt Chicago in Schutt und Asche legt. Ausgelöst durch diese Kuh der Learys, die eine Laterne, gefüllt mit Kerosin, umgeworfen haben soll. Doch weil schon immer finanzkräftige Geschäftsleute in der nordamerikanischen Stadt lebten, die den Traum vom Kapitalismus weiterträumen und noch mehr Geld machen wollten, begann man mit dem Wiederaufbau: größer, weiter, höher. Die erste moderne Großstadt nahm Gestalt an.

Susan Pappas erzählt die Legende von Learys Kuh mit einem Schmunzeln: „Die Geschichte ist einfach zu gut, und sie passt bestens zu dem Selbstbewusstsein, zu der heiteren Gelassenheit der Menschen in der drittgrößten Stadt der USA nach New York City und Los Angeles.“ Seit sieben Jahren gehört die ehemalige Lehrerin zum Team der Ehrenamtlichen, die im Namen der Architecture Foundation, der Architektur-Stiftung, Touristen alles Wissenswerte über die Schönheit und atemberaubende Bebauung Chicagos während einer Fahrt über den Chicago River erzählt. 90 Minuten voll mit Geschichte und Geschichten.

Klick, klick, klick! An Bord von „Chicago’s First Lady“ wird fotografiert, was die Kamera hergibt. Wir staunen über diese Giganten aus schwarzem Granit, aus blauem und grünen Glas, aus Beton, Ziegel- und Kalkstein, die so berühmt sind für die Skyline Chicagos, der Stadt, in der die ersten „Skyscraper“ gebaut wurden, die „Wolkenkratzer“. Wir hören einen L-Train heranrattern; in den alten silberfarbenen Zügen ist es oft so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Das alles gab es zwar schon mal zu sehen bei den „Blues Brothers“, in „Batman Begins“, „The Dark Knight“ und in einem Werbespot für den BMW i3 Concept – aber so direkt und in echt verblassen die Kinoerinnerungen. Susan Pappas liefert die Informationen zu den Hochhäusern: „Das Home Insurance Building von 1885 gilt mit seinen – inzwischen aufgestockten – zehn Etagen und 42 Meter Höhe als erstes moderne Hochhaus der Welt. Der Willis Tower, früher hieß er noch Sears Tower, war mit 527 Metern lange Zeit das höchste Gebäude der Welt und hat 103 Etagen. Im Hancock Tower geht es bis in den 94. Stock hoch. Von beiden genießen Sie einen gigantischen Ausblick über die Stadt und den Lake Michigan.“

Das Ausflugsschiff fährt vorbei am Gebäude der „Chicago Tribune“ (Zeitung), am Trump Tower (Hotel und Apartments), dem Wrigley Building (Kaugummi-Dynastie), der Marina City (Stadthafen, Parkhaus, Apartments), den Zentralen von IBM und Boeing. Namen von berühmten Architekten schwirren umher: Frank Lloyd Wright, Daniel Burnham, Helmut Jahn, Frank Gehry, Rem Koolhaas, nicht zuletzt Mies van der Rohe. Dessen Credo „Mehr ist weniger“ verhallte in dieser Stadt nicht ungehört.

Wer sich die Stadt mit den Augen von Susan Pappas anschaut, bekommt so nach und nach ein Gefühl dafür, was die Stadtplaner hier alles richtig gemacht haben: Aus Lagerhäusern wurden Apartmentanlagen, aus Bürogebäuden attraktive Wohnhäuser mit Balkons, auf denen der in den USA wohl unvermeidliche Grill steht. Dieses einvernehmliche Nebeneinander von Arbeiten und Wohnen verleiht Chicago eine ganz besondere Atmosphäre, nicht so hektisch, nicht so laut, nicht so aggressiv wie in anderen Metropolen, obwohl hier knapp drei Millionen Menschen ziemlich dicht beieinanderleben.

Zu den absoluten Lieblingsplätzen von Einheimischen wie Fremden gehört der 2004 eingeweihte Millennium-Park. Eine japanische Familie postiert sich direkt vor „The Bean“, die Bohne, wie die Skulptur The Cloud (Die Wolke) im Volksmund heißt. Die glatt polierte Stahlkonstruktion spiegelt das Lächeln von Vater, Mutter, Kind wider – ebenso wie die Silhouette der Stadt. Schade, dass an diesem Nachmittag kein Musiker im benachbarten Jay-Pritzker-Musikpavillon auftritt. Ein Konzert umsonst und draußen, Picknick auf dem Rasen mit Blick auf die futuristisch anmutende Konzertmuschel und absolute Konzertsaalqualität, das hätte doch was! Entworfen hat das alles Star-Architekt Frank Gehry, der erst gar nicht wollte. Wie James Borkman, einer der sogenannten Chicago Greeter und ehrenamtlicher Stadtführer, weiß: „Der Chicagoer Bürgermeister hatte bei Gehry angefragt, ob er für den Millennium-Park einen Pavillon bauen könnte. Doch der lehnte ab, er sei zu beschäftigt. Nach einem Gespräch mit Penny und Sandy Pritzker änderte er seine Meinung – und baute sogar noch eine Brücke als Schallschutz zur Schnellstraße. Es ist die einzige Frank-Gehry-Brücke.“ Die Pritzkers haben Einfluss in Chicago. Sie zählen zu den reichsten Familien Amerikas, ihnen gehört unter anderem die Hyatt-Hotelkette. Mit ihren Dollars unterstützen sie Kunst und Architektur, so stiften sie zum Beispiel den weltweit renommierten Pritzker-Architektur-Preis. Politisch engagieren sie sich bei den Demokraten, arbeiteten für Hillary Clinton und Barack Obama – dessen Karriere wiederum in Chicago begann.

Michael treffen wir bei den North Pier Docks, mit ihm wollen wir „The Loop“, wie der Innenstadtbereich genannt wird, verlassen und in angrenzende Stadtteile radeln. Bei Mike gilt Helmpflicht und die Anweisung: „Ihr müsst immer die ganze Straßenbreite nutzen.“ Und die Autofahrer? Die sind überraschend geduldig, kein Hupen, kein Drängeln, ein rücksichtsvolles Nebeneinander. Wir fahren durch schmale, etwas holprige Straßen, vorbei an maximal dreigeschossigen Wohnhäusern, gepflegten Vorgärten, kleinen Geschäften. Die Großstadt mit ihren Hochhäusern ist weit, weit weg. Nur radeln allein könnte langweilig sein. So gibt es mit Michael eine „kulinarische Fahrradtour“. Wir stillen den ersten Hunger mit einer typischen Chicagoer Deep-Dish-Pizza, probieren süße Cupcakes und herzhafte Hotdogs (niemals mit Ketchup!) und Bier aus einer der kleinen Privatbrauereien. Dieses „Menü“ entspricht unserem Vorurteil von uramerikanischer Küche und gehört unbedingt zu einem Chicago-Besuch dazu, auch wenn in der Metropole eine erkleckliche Anzahl an Sterne-Restaurants um die Gunst der Gäste wirbt und sich in dem (noch) heruntergekommenen einstigen Meat-District (Schlachthausviertel) bereits eine hippe Gastro-Szene etabliert hat. Am Ende der Tour sind alle so satt, dass die letzte Station ausfällt und es nur noch Richtung Hochhäuser zurückgeht, um die Stadt-Silhouette im Abendlicht zu fotografieren. Noch einmal und immer wieder.

In Chicago ist alles XXL, einige Nummern größer als in Hamburg. Andererseits drängen sich Parallelen der beiden Partnerstädte auf: Auch in Hamburg begann die Moderne nach einem großen Brand (5. Mai 1842), hier fließen Alster und Elbe, dort der Chicago River. Hamburg wurde rund um die Außenalster erbaut, Chicago entlang des Michigansees, eher ein Mini-Meer, dessen anderes Ufer nicht zu sehen ist. Unser höchstes Hochhaus, einer der Mundsburg-Türme, misst gerade mal 101 Meter. In beiden Städten verbindet eine Hochbahn die Bezirke, beide haben Parks, Brücken. Beide Städte leben vom Handel per Schiff, Bahn, Flugzeug, Lkw. Selbst der Beiname passt auf Chicago wie auch auf Hamburg: „Windy City“.