Im Zweiten Weltkrieg wurde Nagasaki durch eine Atombombe zerstört, seitdem hat sich die Stadt im Süden Japans komplett neu erschaffen. Neben interessanten Parks und bunten Festen gibt es auch sehr skurrile Sehenswürdigkeiten

Da tanzen sie durch die Luft, die Schmetterlinge, und sind dabei so groß wie ihr Ego. Seht her, nach uns wurde eine der berühmtesten Opernfiguren der Welt benannt: Madame Butterfly. Die Oper von Pucchini spielt genau da, wo die Schmetterlinge ihr Schaufliegen veranstalten, im Glover Garden von Nagasaki. Liebespärchen spazieren umher, den Blick nicht nur auf die hübschen Bäume und Blumen gerichtet, sondern auch auf den Boden. Finden sie einen der zwei Steine in Herzform, die sich auf dem Gelände befinden, dann werden sie ewig zusammenbleiben, so heißt es. Studenten machen Fotos von den 150 Jahre alten Häusern der europäischen Einwanderer und befestigen Anhänger in Herzform mit ihren Wünschen an einem Strauch. In diesem Garten schwirrt so viel Liebe herum, dass jeder Besucher ein paar Schmetterlinge im Bauch mit nach Hause nehmen kann.

Von hier oben hat man einen guten Blick auf den Hafen, den Madame Butterfly früher täglich beobachtete, in der Hoffnung, dass endlich das Schiff ihres Geliebten Pinkerton zurückkehren würde. Doch der amerikanische Offizier ließ sie warten. Jahrelang. Und als er dann doch kam, hatte er seine neue Frau dabei und wollte Butterfly das gemeinsame Kind wegnehmen, woraufhin sich die Betrogene mit einem Schwert erstach.

Die Oper machte Nagasaki zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Ausland berühmt. Der fiktiven folgte am 9. August 1945 die echte Tragödie, als eine Atombombe die halbe Stadt auslöschte. Mehr als 75.000 Menschen waren sofort tot, die gleiche Anzahl starb später an den Strahlenschäden. Die Zerstörungskraft der Bombe endete nicht im Moment ihrer Explosion.

Zum Pflichtprogramm in Nagasaki gehören aufgrund seiner besonderen Geschichte der Friedenspark und das Atombombenmuseum. Es zeigt sehr eindrücklich die Chronologie der damaligen Ereignisse sowie ihre grauenvollen Auswirkungen. Unzählige Schnüre mit Origami-Kranichen hängen im Gebäude. Schüler aus ganz Japan bringen sie bei ihren Besuchen als Zeichen der Hoffnung mit. Dann stehen sie verdutzt vor dem Nachbau der „Fat Man“ genannte Bombe und wundern sich, wie klein dieser Massenmörder war. Beklemmend sind auch die Zitate von Zeitzeugen und eine im dem Moment der Explosion stehen gebliebene Uhr. Es war 11.02 Uhr, als Nagasaki starb.

Masato Furukawa kennt einige der Opfer, sein Onkel und dessen Familie waren unter ihnen. Man merkt dem 60-Jährigen an, dass er sich in dieser Erinnerungsstätte unwohl fühlt, eigentlich mag er gar nicht hier sein. Vergessen sei besser, meint er, als ständig über das Böse nachzudenken. „Ich möchte nur gute Gedanken zulassen, unsere Leben sind so kurz.“ 25 Jahre arbeitete Furukawa für Mitsubishi, die Firma, deren Werften das Angriffsziel der Amerikaner waren. Als 2011 ein Erdbeben die katastrophalen Störfälle im Kernkraftwerk Fukushima auslöste, zuckte Furukawa nicht mal mit der Wimper. Niemals hätte Gefahr für Nagasaki bestanden, und was solle es bringen, sich Sorgen zu machen? „Wir Japaner haben Angst vor der Panik.“

Höfliche Zurückhaltung gilt als oberste Kommunikationsregel, Japaner möchten niemanden mit ihren Problemen belästigen. Für Ausländer wirkt es manchmal, als trügen die Menschen einen unsichtbaren Fächer vor ihrem Gesicht. Als Furukawa später auf einen weinenden Mann trifft, ist er überzeugt, dass es sich bei ihm um einen Chinesen handeln müsse. „Wir würden nie in der Öffentlichkeit weinen. Außerdem gibt es nichts zu beklagen.“

Verständlich, die Einwohner Nagasakis wollen raus aus der Opferrolle. Lange genug haben sie diese übernommen, dabei gab es in der Geschichte ganz andere, bessere Zeiten. So stellte Nagasaki mehr als 200 Jahre lang das Zentrum für den Handel und die Kommunikation mit dem Westen dar. Egal welcher Kaiser, Shogun oder Daimyo gerade das Sagen hatte, an diesem südwestlichen Punkt Japans wurden andere Kulturen stets willkommen geheißen und Fremdes geradezu wie ein Schwamm aufgesogen. Nagasaki war sozusagen die neugierigste und weltoffenste Japanerin von allen. Das Christentum in Ostasien beispielsweise nahm hier seinen Anfang. Daher gibt es auch heute noch viele katholische Kirchen in der Region wie etwa die Oura-Kirche. Als eine der ältesten Kirchen des Landes wurde sie zum Nationalschatz erklärt. An ihrer Decke scheinen bunte, verschwommene Lichter. Fast so, als würden kleine Engel mit Wasserfarben malen.

Zur Weltoffenheit Nagasakis gehört, dass ein Oktoberfest veranstaltet wird und dass die drei Klassiker der heimischen Küche, Castella-Kuchen aus Portugal, Champon-Nudeln aus China und Käsebällchen aus Holland sind. Die Niederländer pflegen ein ganz besonderes Verhältnis zu Nagasaki. Wer das nicht weiß, würde sich extrem wundert, außerhalb der Stadt bei Sasebo plötzlich auf eine Art holländisches Disneyland zu stoßen. In einem der größten Themenparks Japans laufen japanische Angestellte in Frau-Antje-Look herum, Windmühlen drehen sich, Kanalboote fahren, es gibt sogar eine Replik von Hollands höchsten Kirchturm und Königin Máximas Schloss. Zur Blütezeit findet in Huis ten Bosch schätzungsweise die größte Tulpen-Schau der Welt statt.

Woher rührt diese Faszination für Holland? Yukiko Taniguchi, Tourismusexpertin aus Nagasaki, die sechs Jahre in New York arbeitete, um dann festzustellen, dass sie ihre Heimat zu sehr vermisst, erklärt das Phänomen: „Über 200 Jahre lang erfuhren wir alles, was wir von der großen weiten Welt wissen wollten, nur von ihnen.“ Denn als das xenophobe Tokugawa-Regime Japan von 1641 bis 1859 eine Isolation aufoktroyierte und alle Ausländer verbannte, gab es eine Ausnahme: Holländische Schiffe durften weiterhin anlanden, und das taten sie in Dejima, einer fächerförmigen Insel am Hafen von Nagasaki. Zu der Zeit stellte dieses winzige Stückchen künstlich aufgeschütteter Erde für die Japaner das einzige Fenster zum Rest der Welt dar. Selbst nach dieser Periode wurden westlich aussehende Menschen lange noch als Holländer bezeichnet.

Die 34-jährige Taniguchi hat die Niederlande schon drei mal besucht, sie liebt Gouda, das dreitägige Kunchi-Festival mit den alten, holländischen Schiffen, das jedes Jahr im Herbst stattfindet, und spaziert in der Dejima-Anlage schnurstracks auf einen Baum zu, den König Willem-Alexander (damals noch Kronprinz) hier 1990 pflanzte.

Taniguchi weiß auch über einen anderen berühmten Holländer zu berichten, der eigentlich Deutscher war: Philipp Franz von Siebold. Der Arzt hatte 1823 die verrückte Idee, sich als Holländer auszugeben, weil er unbedingt nach Japan wollte (das wie gesagt nur den Niederländern Zutritt erlaubte). Siebold beherrschte nicht einmal die Sprache, doch auf Dejima lernte er schnell – und lehrte fortan andere etwas. Er unterrichtete japanische Studenten in westlicher Medizin, sein Ruf wurde immer größer und die Leute kamen von weit her zu ihm nach Nagasaki. Siebold forschte an allen Ecken und Enden und reiste quer durch das Land zum Shogun nach Edo, heute Tokiyo. Sein bekanntestes Werk „Nippon“ prägte das Japan-Bild der ganzen westlichen Welt. Das aufregende Leben des falschen Holländers wird im Siebold-Museum (das Gebäude ist eine Replik seines Wohnhauses) dargestellt, inklusive der Lovestory mit seiner japanischen Frau, die in Teilen der von Madame Butterfly ähnelt. Zum Glück ging sie besser aus.

Wer es lieblich mag, sollte bei einem Nagasaki-Besuch noch über die Brillenbrücke wandern, die so heißt, weil ihre Bögen, die sich im Wasser spiegeln, an Brillengläser erinnern. Man könnte auch einen Ausflug auf den 333 Meter hohen Berg Inasa machen (links vom Fuchi-Schrein startet die Seilbahn hinauf zum schönsten Blick auf die Stadt) oder bis zur etwa eine Stunde entfernt gelegenen 99-Insel-Landschaft. Eigentlich handelt es sich hierbei um 208 Inseln, der Namensgeber war des Zählens vielleicht irgendwann überdrüssig, aber eine Bootsfahrt entlang dieser Pazifik-Eilande gilt auf jeden Fall als echtes Japan-Highlight. Schöner geht’s nicht.

Schrecklicher durchaus. Die bizarrste und gruseligste Sehenswürdigkeiten der Region heißt Hashima, wegen seiner Silhouette in der Dämmerung auch Kriegsschiffinsel genannt. Tatsächlich wurde hier ab 1887 unterseeisch Kohle abgebaut. Zeitweise lebten bis zu 5000 Menschen auf der sechs Hektar kleinen Insel, die kein Grün kannte, sondern nur Pechrabenschwarz und die dazu passende Stimmung. Ertönte die Alarm-Sirene, wussten Frau und Kind, dass unten im Schacht ein Unglück passiert war. Die Sirene ertönte oft. Leben auf Hashima bedeutete Leben in Angst. „Wer morgens zur Schicht aufbrach wusste nicht, ob er abends zurückkommt“, sagt der Guide beim Rundgang über die Insel ins Mikrofon. Die Zuhörer stehen betreten inmitten der Ruinenlandschaft; einer fragt, wann das Boot zurück abfahre.

Auf der anderen Seite waren die Arbeiter, wenn es sich nicht um Zwangsarbeiter handelte, die bestbezahlten Japans. Lange vor allen anderen konnten sie sich Luxusgüter wie Fernseher leisten, doch die brachten wenig Freude, weil ständig Taifune die Sendemasten zerstörten. Küchen und Bäder mussten die Familien gemeinschaftlich nutzen. Szenen des letzten James-Bond-Films „Skyfall“ wurden hier gedreht; Hashima brillierte darin als „Dead City“.

Eine sehr authentische Bezeichnung, denn als 1974 die Kohlemine schloss, zogen die Menschen fast fluchtartig fort und ließen viele persönliche Gegenstände zurück. Heute ist Hashima ein industrieller, furchteinflößender Torso. Ein Mahnmal der Ausbeutung. Gäbe es böse Geister, hier würden sie einziehen. Jahrzehntelang war das Betreten verboten, doch dank 007 sind die Ausflugsboote nach Hashima nun regelmäßig ausgebucht, die Insel ist Anwärter auf den Titel als Unesco-Weltkulturerbe und sorgt mit ihrer schaurigen Vergangenheit für gute Tourismuszahlen.

Jede Traurigkeit hat ihre Zeit. Nagasaki litt im 20. Jahrhundert, doch jetzt stehen alle Zeichen auf Freude und Optimismus. Wer so viele Tränen vergießen musste, hat sich ein Lächeln verdient.