Selbst in Indien gibt es einsame Gegenden. Zwischen den Bergen der Westghats und dem Arabischen Meer trifft man wenige Touristen, dafür viele Geschichten: von Menschenopfern, vegetarischen Krokodilen und Drogen aus Kokosnüssen

Sie planen eine Mars-Mission? Fein, dann sind Sie nicht betroffen. Für alle anderen wird es schwierig, irgendwo noch der Erste zu sein. Einen Ort zu entdecken, der in keinem Reiseführer auftaucht. Von dem Wikipedia nichts weiß, in dem es keine Souvenirshops gibt und keine Parkplätze für Reisebusse. Im überfüllten Indien würde man ihn als Letztes vermuten, doch in den Regenwäldern um Madikeri haben wir ihn gefunden.

Hier leben die Kodava, ein ziemlich entspanntes Volk, ursprünglich stolze Krieger, heute wohlsituierte Plantagenbesitzer, die ihren Hinduismus recht locker auslegen. Fleisch und Alkohol spielen durchaus eine Rolle, genauso wie ausführliche Feste, von denen das wichtigste im September zum Vollmond stattfindet: Rund 3000 Einheimische versammeln sich vor dem Tempel der Göttin Kali, und was dabei in puncto Musiklautstärke und Trancezuständen abgeht, hält locker mit jeder Loveparade mit.

Um den Tempel zu finden, benötigt man gute Schuhe und einen Ortskundigen wie Abhishek Jain, der den Pfad durch den Dschungel bis zum heiligen Hain kennt. „Noch gibt es keine Wegweiser oder Touristengruppen, die hierherkommen, aber das wird sich sicher bald ändern. Das Geschäft mit den Tempeln in Indien läuft zu gut“, sagt der 27-Jährige. Die Göttin Kali steht kurz davor, ihre Unberührtheit zu verlieren.

Abhishek liest im Regenwald wie andere in Zeitungen. Jede Pflanze, jedes Tier, jedes Geräusch erzählt ihm eine Geschichte. So erfahren wir von strangulierenden Bäumen, von Wespen, die Blattgeschwüre auslösen, von Vögeln, die „Happy Birthday“ singen, und von Spinnen, die ihre Opfer zu Suppe verarbeiten, weil sie nur trinken können, nicht essen. „Tiere sind viel klüger, als wir glauben.“ Am Kali-Tempel angekommen, erfahren wir Grausames: Hier wurden früher Kinder geopfert, das letzte Mal vor 30 Jahren. Ein Opferstein auf der Wiese links vom Tempel erinnert daran, ansonsten herrscht – mal abgesehen vom üblichen Dschungel-Orchester – himmlische Ruhe. Der Platz wirkt so unentdeckt und vergessen wie das Schloss von Dornröschen. Plötzlich kommt es auf, das touristische Pioniergefühl! Erster!

Wir ziehen unsere Schuhe aus, gehen links vom eigentlichen Weg durch das Steintor (der direkte Zugang darf nur von Hindus benutzt werden) und begrüßen Kali, die sich extra schick gemacht hat. Seit Kurzem schmückt den kleinen, aber feinen Göttinnen-Tempel ein neuer Anstrich, das bringt ein bisschen Farbe in die Westghats, wo das Grün nicht enden will. Eingerahmt wird das 850 Jahre alte Gebäude von riesigen Rudraksha-Bäumen, teilweise über 30 Meter hoch, die ihre dicken Wurzeln wie Tentakel in den Wald ausstrecken. Jeden Morgen um 11 Uhr kommt der Priester, der nicht viel zu tun hat, außer den rostigen Opferbriefkasten zu leeren, die perfekte Umkehrung eines bekannten Spruches: Außen pfui, innen hui! „Die Summen sind teilweise schockierend hoch“, sagt Abhishek. Einmal sollen vor einer wichtigen politischen Wahl über 500.000 Euro dabei gewesen sein. In Indien haben die Götter das Sagen, nicht die Wähler.

Die Berge um Madikeri können zum größten Dampfbad der Welt werden

Aus dem Gebüsch fingert Abhishek ein paar Beeren, die essbar sind. Sie würden nicht so gut schmecken wie deutsche Kirschen, aber immerhin. Das Schönste, das der Botaniker bei seiner Deutschlandreise gesehen hat? „Den Fliegenpilz im Schwarzwald. Ein wundervolles Geschöpf.“ Wenn Abhishek für seine Forschungen im Dschungel übernachtet, hängt sein Zelt stets hoch in den Bäumen, nicht nur aus Angst vor Kobras und Tigern, sondern auch wegen der starken nächtlichen Regengüsse. Geht danach am Morgen die Sonne auf, stellen die Berge um Madikeri das größte Dampfbad der Welt dar.

Wer es nach dem individuellem Naturerlebnis ein bisschen touristischer mag, kann sich den Goldenen Tempel von Bylakuppe angucken, ein Mini-Tibet, oder Richtung Meer fahren. Auf dem Weg sollte man an der Quelle des Kaveri, des heiligsten Flusses Südindiens, halten oder eine Kokosnuss zerschmettern im 3000 Jahre alten Bagandeshwara-Tempel. Das löst nämlich Probleme aller Art, allerdings ist die Prozedur korrekt auszuführen: Die Nuss in die rechte Hand nehmen, sie dreimal um den Kopf kreisen lassen, mit voller Wucht gegen den extra aufgestellten Kokosnuss-Zerwürfnis-Stein werfen und anschließend ein Stück des Fleisches essen. Schon sind alle Sorgen heruntergeschluckt.

Kokosnüsse gibt es an jeder Ecke und in Massen. Das Lied „Wer hat die Kokosnuss geklaut?“ schrieb garantiert kein Inder, denn eine Nuss mehr oder weniger würde niemandem auffallen. Südindien ist außerdem das Land, in dem der Pfeffer wächst. Genau wie Kardamom, Chili, Vanille, Koriander, Curry und, und, und. Die Region Coorg im Bundesland Karnataka ist so fruchtbar, dass wahrscheinlich alles wachsen würde, was man auf den Boden fallen lässt. Spezialisiert haben sich die Einwohner auf Kaffee. Dicht an dicht reihen sich die Plantagen. Anderswo gäbe es längst Kaffeeshops oder Tastings für Touristen. Hier verfügen viele Plantagenbesitzer noch nicht mal über eine Internetpräsenz, dabei liegt Bangalore, das indische Silicon Valley, nur 240 Kilometer entfernt.

In aller Ruhe können sich Schleichkatzen daher die besten Bohnen von den Bäumen schnappen. Ihr verdautes Werk schätzen einige Kaffeeliebhaber als absolute Spezialität. Eine Tasse des sogenannten Civet-Kaffee kostet in Europa an die 80 Euro.

Anstatt Katzenkot-Gebräu trinken wir lieber Kokosnuss-Wasser und fahren runter nach Kerala. Der Süden des Bundeslandes ist bekannt für seine Ayurvedakuren und Bootsfahrten auf den Backwaters. Im Norden jedoch sind bisher nur wenige Reisende unterwegs. Ein Europäer wird hier bei einem Bummel durch die Straßen unweigerlich zu einer wandelnden Sehenswürdigkeit. Dabei gibt es viel Interessanteres anzugucken: Babys, die Goldkettchen tragen. Kühe, die mitten auf der Kreuzung Bananen essen. Männer, die sich geschmeidig zu sechst in ein Tuk-Tuk quetschen. Und Frauen, die in kunstvoll gewickelten Saris selbst der dreckigsten Straße Glanz und Glamour verleihen. Eine dieser Frauen ist Karuna Amarnath. Die 29-Jährige trägt jeden Tag einen anderen, noch hübscheren Sari. „Eine moderne Inderin zieht nie zweimal das Gleiche in der Woche zur Arbeit an“, erklärt Karuna, die als PR-Managerin für die Marke Vivanta von Taj arbeitet, der größten und ältesten Hotelgruppe des Landes. Moderne Inderinnen wie Karuna beschäftigen ganz selbstverständlich Angestellte, die für sie und ihren Mann kochen, putzen und aufräumen. Das kostet 1000 Rupien pro Woche, umgerechnet rund 17 Euro. Moderne Inderinnen gibt es allerdings nicht überall. „Im Norden von Indien sind die Menschen viel konservativer, oft aggressiver,“ sagt Karuna. Während alleinreisende Frauen im relaxten Süden Indiens problemlos unterwegs sein können, sollten sie sich im patriarchalisch geprägten Norden durchaus auf den einen oder anderen bösen Blick gefasst machen. „Viele dort denken, dass Frauen nur dazu da sind, möglichst viele Kinder bekommen.“ In Kerala sieht die Situation anders aus. Auf Schuldbildung wird viel Wert gelegt, 98 Prozent der Menschen können lesen und schreiben, und mit großen Plakaten wird versucht, die Geburtenzahl zu kontrollieren. „One Family, one Tree“ steht dort, jedes Paar möge also bitte nur ein Kind bekommen.

Karunas Mann ist Designer, und obwohl die beiden keine arrangierte, sondern eine moderne Liebesheirat hatten, waren auch bei ihrem (dreitägigen) Fest 1000 Gäste. „In Indien heiratet man keinen Mann, sondern eine Familie.“ Jeder weiß immer über jeden Bescheid, die soziale Kontrolle ist hoch. Genauso wie die staatliche: Für das Paffen einer Zigarette in der Öffentlichkeit zahlt man beispielsweise 500 Rupien Strafe; wird er noch mal erwischt, geht der arme Raucher sogar in Haft. Da stellt das Kauen von Betelnüssen eine gute und beliebte Alternative dar. Ständig sieht man Männer den roten Stoff auf die Straße spucken. Jeder von ihnen weiß, dass der Nuss-Tabak-Mix Mundkrebs auslöst, aber der Genuss kostet immerhin keine Strafe.

Auch der Alkoholkonsum wird reguliert. Trinkt im Fernsehen ein Schauspieler Wein oder Bier, wird unter die Szene ein Hinweis eingeblendet: „Böse! Ungesund!“ Sieht man viele Männer artig in einer sehr langen Schlange stehen, handelt sich um einen öffentlichen, erlaubten Verkauf der üblichen Spirituosen. Wer es etwas lokaltypischer mag, trinkt Toddy. Toddy ist ein täglich neu angesetzter Kokosnussschnaps, der morgens noch halbwegs genießbar schmeckt, abends jedoch in die Kategorie „Droge“ gehört. Ein Glas reicht, um seinen Körper komplett auf die Palme zu bringen. „Widerlich“, sagt Karuna, lacht und bestellt sich einen Coorg Coffee Cocktail, der aus Wodka, Kahlua und Kaffee aus der Region Coorg besteht. Ein Drink wie ein Wecker.

Am nächsten Tag stellen wir fest, dass Nord-Kerala einige Sehenswürdigkeiten in der Hinterhand hat wie das Fort Bekal, eine riesige Festung direkt am Meer. Gnadenlos klatschen die Wellen gegen die im 17. Jahrhundert von den Portugiesen gebaute Anlage, dennoch wirkt sie fast wie neu. Ein Fels in der Brandung könnte nicht stabiler sein. Der muslimische Herrscher Tipu Sultan, genannt Tiger von Mysore, nutze das Fort als Munitionslager, und einigen Legenden zufolge soll es sogar als Teststation für raketenähnliche Waffen genutzt worden sein. Die Regierung hatte vor ein paar Jahren eine gute Idee, um das Fort als Besichtigungspunkt bei der eigenen Bevölkerung bekannt zu machen: Sie ließen in der Festung ein Bollywood-Video drehen, und da Clips wie dieser im indischen Fernsehen bis zur Erschöpfung laufen, klettern heute viele Inder begeistert die Steine hoch und runter.

Das Ende unserer einwöchigen Reise gestalten wir so wie den Anfang: mit einem Tempelbesuch. Anders als Kali ist der Ananthapuram-Tempel aus dem 9. Jahrhundert schon etwas bekannter, was an seinem ungewöhnlichen Bewohner liegt, dem Krokodil Babiya. Angeblich beschützt es die Mönche des Seetempels und ernährt sich rein vegetarisch. Die gesunde Lebensweise hat es über 70 Jahre alt werden lassen, doch taub muss es inzwischen sein bei der Musik, die jeden Tag über das Gelände schallt. In Indien gibt es so viele Religionen, dass sich die gegenseitig übertrumpfen wollen. Das funktioniert am einfachsten über Lautstärke.

Träge liegt die zwei Meter lange Babiya im Seerosenteich herum und scheint sich zu fragen, was die weißen Menschen von ihr wollen. „Komm her! Los, Kroko! Lecker Fresschen gibt es“, rufen sie und werfen Früchte ins Wasser. Babiya blinzelt genervt. Obst, andauernd Obst. Doch wer weiß. Sollten in Zukunft immer häufiger Touristen die Tempel-Ruhe stören, bekommt das Krokodil vielleicht doch irgendwann Appetit auf Fleisch.