Wer auf dem Horton River in Kanada paddelt, verzichtet auf jeglichen Komfort und erlebt dafür den seltenen Luxus der Einsamkeit

Am kanadischen Pazifik, irgendwo im Westen Britisch Kolumbiens – zwischen Prince George und Prince Rupert –, liegt die Stadt Smithers. Hier versteckt sich das Haus von Gladys Atrill tief im Wald, einen Katzensprung entfernt vom Yellowhead Highway. Gladys sieht meinen Truck schon von Weitem kommen. Sie erwartet mich bereits, ihr Freund Roger McColm ebenfalls. Der montiert gerade das vierte und letzte der roten Kanus auf den Hänger seiner Zugmaschine. Gladys und Roger sind seit Jahren Kanu-Tourguides der Extraklasse – und startklar für unsere Tour mit acht Leuten.

Noch dabei sind Valery aus Smithers, ebenfalls begeisterte Kanutin, sowie die Amerikaner Terry und Tom aus Boulder, Colorado, die später in Eagle Plains am Dempster Highway zur Gruppe stoßen. In Inuvik kommen Scott und sein Sohn Daren dazu. Alle haben wir ein Ziel: 69 Grad 50 Minuten Nord – „The Arctic Sea“, das Polarmeer. Und das wollen wir paddelnd erreichen. Genau gesagt den Amundsen Golf, noch präziser die Franklin Bay. Keiner von uns hat den Horton River, einige Hundert Kilometer östlich von Inuvik und weit nördlich des Großen Bärensees in den Northwest Territories Kanadas, je erblickt – geschweige denn gepaddelt. Das haben überhaupt nur wenige je getan, der 618 Kilometer lange Horton River ist der nördlichste Fluss des kanadischen Festlandes, und seine Ufer sind über keine Straße zu erreichen.

Die Anreise ist lang, führt im Auto nordwärts über den Cassiar Highway 37 durch den Spatsizi Plateau Provincial Wilderness Park. Als die Gruppe den Stikine River überquert, lächelt der sonst schweigsame Roger mich an. „Na, Junge, erinnerst du dich – an Happy Lake, Laslui Lake und dann in den an der Quelle so winzigen Stikine, den Großen Fluss, wie ihn die Tahltan-Indianer nennen?“, fragt mich der rothaarige, untersetzte Mann irischer Abstammung. Wie könnte ich mich nicht erinnern? Bis zu diesem Grand Canyon Kanadas paddelte ich bereits einmal bei einer anderen Gelegenheit. Weiter geht es nicht – jedenfalls nicht für Kanuten. Nein, für niemanden. Flussabwärts geht es über Telegraph Creek und Glenora bis nach Alaska und in den Nordpazifik.

An dieser Stelle begann die Sucht, mit einem Kanu unterwegs zu sein

Nun aber wartet der Horton River mit seinen Abenteuern. Kaum haben wir auf dem Alaska Highway Johnson’s Crossing mit der stählernen Brücke über den Teslin River erreicht, stoppt Roger. Hier, in einem Café, gibt es die besten Cinnamon Rolls (Zimtrollen) der Welt. Für mich gibt es noch einen Grund: An genau dieser Stelle, unter dieser kühnen Brückenkonstruktion, begann es mit meiner Sucht – der Sucht, mit einem Kanu unterwegs zu sein.

Ich war allein und absolutes Kanu-Greenhorn. Um mich herum Tausende Mücken, oben donnerten die Laster über die Brücke. Die vielen Schwalben lachten mich aus und besprenkelten mein Hab und Gut für eine gute vierwöchige Reise flussabwärts: runde 800 Kilometer bis Dawson City. Ich packte und packte, das grüne Boot sank immer tiefer. Als ich nach vier Stunden endlich ablegte, regnete es, der aufkommende Sturm blies mir ins Gesicht, es wurde immer dunkler und der Fluss immer breiter. Bin ich in die falsche Richtung gepaddelt – in den Teslin Lake? Ich fand auch nach Stunden keinen geeigneten Platz zum Anlegen und Übernachten. Überall Gebüsch, Steine, Steilufer. Außerdem wie anlegen? Wie macht man das mit Sack und Pack im Kanu? Irgendwie war es dann doch geschafft. Als ich am nächsten Morgen frische Wolfs- und Bärenspuren extrem nah an meinem Zelt entdeckte, wollte ich nur noch nach Hause. Doch zu spät – trotz aller Angst im Bärenland Kanada.

Die Einsamkeit. Die Stille. Das Bewusstsein, dass Hunderte von Kilometern kein einziger Mensch ist. Nur Bären, Wölfe, Elche. Die Angst blieb, ich hatte Kompass und Karte, aber kein Satellitentelefon, kein GPS. Der erste Schwarzbär kam am Abend gegen sieben Uhr. Ich stand wie zur Salzsäule erstarrt. Acht, sieben, sechs, fünf Meter. Dann drehte der schwarze Riese ab, wiegte seinen Kopf wie nachdenklich hin und her und verschwand in den Büschen. Der zweite Bär, den ich aber nie sah, hinterließ noch im Nachhinein ein mulmiges Gefühl. Mein Nachtlager stand wegen der vielen Mücken auf baumlosen Inselchen, wo stetiger Wind die Blutsauger vertrieb. Am Morgen kroch ich aus dem Zelt und sah eine Bärenspur. Sie kam aus dem Wasser, hielt genau auf mein winziges Tonnenzelt zu, umkreiste es und verschwand auf der anderen Seite der Insel im Yukon.

Die Königin aller Straßen bleibt der 783 Kilometer lange Dempster Highway

Auf dieser ersten Kanureise durchs wilde Kanada hatte ich alles falsch gemacht und doch überlebt. Ich kannte keinen einzigen Paddelschlag. Von Lining (Seiltechnik), Eddy (Strömung), Portagen (Umtragen) oder Biberfieber (aufgrund verunreinigten Wassers) hatte ich nie gehört. Und doch. Es war das erste Mal. Wie der erste Kuss, die erste Liebe. Daher war diese die schönste meiner Kanufahrten. Ich hatte die Herausforderung angenommen und kam nach 800 Kilometern in Dawson City an. Stolz. Gewagt, gewonnen – allein! Ein mitunter mühevoller und gelegentlich verdammt einsamer Weg über die kanadische Wildnis zu mir selbst. Inzwischen liegen einige Tausend Kanukilometer und viele Erfahrungen hinter mir. Jetzt geht es zu acht zum Horton River. „Cassiar“, „Alaska“, „Klondike“ heißen die Autorouten zum Ausgangspunkt dieser wilden Kanutour. Die Straßennamen klingen nach Gold und Gewehr, nach Jack London, Wolfsblut, Abenteuer. Die Königin aller Straßen aber bleibt für mich der Dempster Highway mit seinen mit Schotter aufgeschütteten 783 Kilometern – von Dawson City bis Inuvik, mit den Gebirgen, den Flüssen vom Ogilvie und Peel bis zum Mackenzie River. Mit den Blumen und Flechten der Tundra. Mit Karibus, Wölfen und Bären. Mit dem den Highway schneidenden Polarkreis nördlich der Tankstelle „Eagle Plains“.

In Inuvik steigen wir um: Die Gruppe belädt die gecharterte DC3 der örtlichen Fluggesellschaft Aklak Air. Vier Kanus samt Paddeln, Zelten, Seesäcken, Verpflegung inklusive Crew – alles verschwindet im Bauch der kleinen Maschine. Der Landepunkt (nach meiner Berechnung exakt 124 Grad 23 Minuten West, 68 Grad 45 Minuten Nord) ist ebenso abgesprochen wie die Koordinaten des Abholpunktes einschließlich des kleinen Zeitfensters, zu dem die Gruppe dort sein will. Falls alles nach Plan läuft – dann ist alles gut. Aber vergisst uns womöglich der Pilot und funktioniert das Satellitentelefon nicht, ist alles schlecht. Der Pilot setzt auf dem Kiesstrand neben dem glasklaren Horton River auf. Diesen Fluss werden in dieser Zeit wohl nur wir befahren, so weit ab liegt er. Um 11 Uhr abends ist es noch immer taghell. Die Sonne brennt vom Himmel. Es sind 25 Grad Celsius, die Luft trocken. Die Zelte sind schnell aufgebaut, der Lohn der Routine vieler Jahre in der kanadischen Wildnis.

Mit „Chefkoch“ Gladys bereitet die Gruppe das Abendbrot zu. Gladys dirigiert, alle parieren aufs Wort. Später gibt es ein Glas Wein. Aber ohne Bäume kein Holz, also kein Lagerfeuer. Roger liest ein Gedicht von Robert Service: „Men of the high North“. Terry beschäftigt sich mit seiner Videokamera. Scott geht mit Sohn Daren angeln. Tom liest im Buch „The Lost Patrol“ von Dick North. Der Schlaf ist kurz. Die Kanus werden früh zu Wasser gelassen, das Packen benötigt viel Zeit, alles muss sicher verstaut werden. Als es losgeht, schlägt Roger mit dem flachen Paddel auf das Wasser und ruft: „Guten Morgen, Horton – hier sind wir!“ Die Expedition beginnt. Das Wetter bleibt schön. Einige Wasserfälle müssen „umtragen“ werden, also raus aus dem Fluss mit den Kanus und wieder hinein. Dazwischen ein beschwerlicher Fußmarsch. Kanus ausladen. Kanus einladen. Roger meint, „Portagen“ gehören zum Kanufahren. Der dicke Banker Tom ist da ganz anderer Ansicht und flucht „four-letter-words“. Am dritten Tag sehen wir einen Vielfraß. Am fünften Tag einen seltenen Moschusochsen, der sich gern in den kanadischen Barren Grounds aufhält. In der sechsten Nacht schleicht ein an den Spuren identifizierter Grizzly um mein etwas abseits aufgestelltes Zelt. Je nördlicher wir kommen, desto mehr Wolfsspuren finden wir. Die Smoking Hills qualmen tatsächlich irgendwie schweflig – scheinbar endlos gefüttert von unterirdischem Jarosit und Lignit.

Noch ein Tag, dann ist es so weit. Rechts ein kleiner Hügel, eine letzte Wand, die uns vom Nordmeer trennt. Die Kanus werden gesichert, zu Fuß jagen wir den Hügel hinauf – acht erwartungsvolle Kanuten. Und da liegt das Arktische Meer vor uns, die Franklin Bay. Wir alle, Gladys, Roger, Tom, Terry, Scott, Daren, Valery und ich, springen mit Klamotten ins Meer. Wir umarmen und beglückwünschen uns, dass wir es geschafft haben, und rufen: „We have made it – the Arctic Sea!“