Käse machen, Trachten schneidern oder Alphorn blasen - die Oberbayern leben ihre Traditionen. Eine Reise vom Allgäu bis zum berühmten Königssee.

Schöner die Berge nie klingen, als zu der Sommerzeit. Die Kühe tragen riesige Glocken um den Hals und bimmeln scheinbar im Takt vor sich hin. Ding Dong ab morgens fünf Uhr bis es abends in den Stall geht. So ein langes Orchester haben selbst Wagner-Fans noch nicht gehört. Wir sind in Balderschwang im Allgäu, ein Ort an der Grenze zu Österreich, 1044 Meter hoch. Im Winter fällt in der höchstgelegenen Gemeinde Deutschlands so viel Schnee, dass die Einheimischen ihr Dorf auch "Bayerisch-Sibirien" nennen. Im Sommer jedoch finden wir hier ein Bilderbuch-Allgäu: sanft geschwungene Hügel, urige Hütten, im Hintergrund die Alpen und weidende Kühe, die extra "anreisen", um hier ihre Sommerfrische zu verbringen.

Die Wiesen sind mit den besten Kräutern reich gedeckt, und so entsteht eine Milch, die es anderswo angeblich nicht gibt. Aus ihr wird der berühmte Alpkäse hergestellt, der Exportschlager der Region. Fast jeder Tourist nimmt sich ein Stück davon mit nach Hause, denn anders als im Supermarkt darf er live dabei sein, wenn seine Nahrung entsteht. Viele Sennerinnen lassen sich beim Käsen zuschauen. Eine sehr anstrengende Arbeit: Nach dem Melken werden Eimer für Eimer der frischen Rohmilch in die Sennküche getragen. Große Kupferkessel müssen befeuert und bis zu 25 Kilo schwere Laibe mehrmals am Tag in trockene Tücher eingeschlagen und gewendet werden. "Man sollte es wirklich gerne machen", sagt Anke Kohler von der Höfle Alp. "Es kommt auf viele Kleinigkeiten an, und das Ergebnis sieht man leider erst frühestens nach drei Monaten, wenn der Käse reif ist. Das ist immer ein Risiko."

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Wie das Käsen funktioniert, hat sie von ihrem Onkel gelernt und der wiederum von seiner Mutter. Alles läuft genauso ab wie schon seit ewigen Zeiten, nur die Touristen, die waren früher nicht dabei. Anka Kohler hat eine große Schürze umgebunden, sie stapelt Holzscheite, rührt in 100 Jahre alten Holzgefäßen, werkelt zwischen Milch, Molke, Butter und Käse hin und her, ihre Wangen sind gerötet. Eines ihrer beiden Kinder sitzt in einer kleinen Schaukel daneben und lacht. Die Szenerie wirkt wie aus einem alten Heimatfilm. Seine Hauptdarstellerin zeigt auf die Kellertür: "Unsere Schatzkammer." Hier lagert der Käse, das Einkommen für drei Generationen. Und eine echte Kraftquelle. Nach einer Brotzeit wandert es sich gleich viel leichter von einem Panoramabild zum nächsten.

Auf dem Weg zur Sennalpe Spicherhalde kommt man dabei an Balderschwangs größtem Stolz vorbei: einer 2000 bis 4000 Jahre alten Eibe. "Ganz genau weiß es niemand. Der Baum steht in jedem Fall sehr lange da", sagt Marc Traubel. Der 30-Jährige arbeitet in der Hubertus Alpin Lodge, wie die meisten Hotels und Restaurants vor Ort ein Familienbetrieb. Zehn Jahre war der Sohn weg von zu Hause, unter anderem arbeitete er in Dubai. "Aber erstens gab es dort kaum Milchprodukte, und zweitens hat mir meine Heimat doch gefehlt." Oberbayern ist wahrscheinlich die Parade-Heimat schlechthin. Die Natur darf ursprünglich sein und ist nicht zum Freizeitpark mutiert. Das Zuhause wird geliebt, das Althergebrachte geschätzt. Je weiter in den Bergen, desto stärker die Traditionen.

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Vom Allgäu geht unsere Reise durch Oberbayern weiter an den Tegernsee, wo es seit der allgemeinen Wiederentdeckung des Ursprünglichen, Altbewährten und Authentischen sogenannte Heimatführer gibt. Sie erzählen den Touristen Geschichten über die Kultur der Region. "S'Gwand am Tegernsee damals bis Heit" heißt beispielsweise die Tour von Gertrud Schönauer-Wanninger, bei der sie erklärt, wie Dirndl, Schalk, Lederhos'n oder Joppe entstanden und aussehen müssen. Wer als Norddeutscher die bayerischen Worte nicht versteht, der braucht die Dame nur anzuschauen, um zu kapieren, wie schön Brauchtum sein kann. Besonders im Kollektiv. "Wenn wir alle unsere Tracht tragen, fühlt man sich so zugehörig. Man hebt sich ab von der Masse." Diesen Effekt erlebt Gertrud Wanninger nicht nur auf den Tegernseer Wald- und Seefesten im Sommer oder beim berühmten Rosstag (Motto: "d'Fuhrleut kemman z'amm"), der in diesem Jahr am 26. August stattfindet, sondern auch in Florida. Dort trägt sie zum Golfspielen schon mal Lederhose. "Sofort hat man ein paar Leute um sich herum und ein Gesprächsthema."

Zweifellos macht ein Dirndl jede Frau hübscher, und wer es ernst meint mit der Tradition, lässt sich eines auf den Leib schneidern, zum Beispiel bei Fanny Probst am Südufer des Sees in Rottach-Egern. Das Gwand vom Land rückt preislich oft in die Nähe von Hochzeitskleidern, aber ein echter Bayer trägt Unikat. "Auf dem Oktoberfest allerdings ziehe ich nur noch Jeans an", sagt die Heimatführerin. "Ich finde es toll, dass sich die Mädel wieder für Bräuche interessieren, aber ein richtiges Dirndl reicht übers Knie und wird nicht mit Cowboystiefeln kombiniert."

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Was nicht bedeutet, dass die jungen Leute keine Ahnung von Traditionen haben. Martin Wiesner beweist das Gegenteil. Der Junge aus Kreuth fertigt in seiner kleinen Manufaktur original Tegernseer Hüte und restauriert ältere Stücke. Ob Velour oder Loden - keine Kopfbedeckung gleicht der anderen. Seine Hände sind rau und grün von der Arbeit, doch seine Hüte fühlen sich an wie Samt. Bis zu ein Jahr Wartezeit müssen die Kunden des 27-Jährigen inzwischen mitbringen. Hut ab! "Arbeit ohne Ende" habe er. Warum? Manche der Reisenden scheinen bereits alles zu besitzen, nur ein Stück Heimat, das fehlt ihnen noch. Kleiner Tipp am Rande: An einen echten Trachtenhut gehört immer eine frische Blume, am besten Enzian, und Hemden werden in Bayern bis über den Ellbogen gekrempelt.

Wiesner beschäftigt sich nicht nur bei der Arbeit mit Traditionellem, sondern auch in seiner Freizeit. Da spielt er Tegernseer Tanzlmusi. Die Märsche und Polkas tragen Titel wie "Nett beinand" oder "Boarisch tanz ma", und selbstverständlich haben die Musikanten dabei Hüte auf. "Was für uns normal ist, wird von den Touristen als etwas Besonderes geschätzt", sagt Wiesner.

Musikalisch geht die Fahrt entlang der Traditionen weiter bis nach Bischofswiesen im Berchtesgadener Land. Dort baut Alois Biermaier Alphörner, die einem echten Bläser das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Wer die Werkstatt nicht gleich findet, geht immer dem Gehör nach: Das Alphorn ist bis über die Straße, bis zum Gasthof Brennerbräu, zu hören. Ursprünglich war es ein Verständigungs- und Rufinstrument der Hirten. "Heute lässt es unsere Herzen aufgehen", sagt Biermeier. Der 71-Jährige streicht mit seiner großen Hand über das Fichtenholz. Er spielt schon sein ganzes Leben lang und freut sich, dass sogar sein Enkel schon einige Töne herausbekommt. "Nur wenn wir es den Jungen beibringen, können wir unsere Traditionen erhalten. Ich bin ja ein Auslaufmodell."

Das Auslaufmodell jedoch wird für immer einen Platz im Guinnessbuch der Rekorde haben. 1982 schuf der Schreiner mit einer Länge von 21 Metern das seinerzeit größte Alphorn aus einem einzigen Stück Holz. Biermeier schaut aus dem Fenster: "Ohne den Bergblick und ohne die Musik könnte ich nicht leben. Bei unseren Auftritten habe ich schon Touristen vor Rührung weinen gesehen."

Was sicher auch an der passenden, romantischen Kulisse des Berchtesgadener Landes liegt. Über allem thront der 2713 Meter hohe Watzmann; zu seinen Füßen liegt der Königssee, der vielleicht schönste Gebirgssee Deutschlands. Die dort auf einer Halbinsel gebaute barocke Wallfahrtskirche St. Bartholomä mit ihren roten Zwiebeltürmen zählt zu den weltweit am meisten fotografierten Motiven und ist nur mit Booten zu erreichen. Leise gleiten die maßgefertigten Fahrzeuge über das Wasser; seit 100 Jahren schon läuft die Königsseeschifffahrt ausschließlich mit Elektromotoren. Prinzregent Luitpolt hatte Angst, dass sein Wild bei zu viel Lärm Reißaus nehmen könnte. Die Felsen des Berchtesgadener Landes fallen fast senkrecht in den See hinein, der an seiner tiefsten Stelle 192 Meter misst.

Nach zehn Minuten Fahrt erreichen wir die berühmte Echowand. Der Kapitän holt seine Trompete hervor, holt Luft und bläst in Richtung Felswand. Zwei Echos hallen zurück. Die Touristen sind begeistert. Endlich mal ein Berg, der wirklich ruft. Das Wasser glitzert seinen Applaus dazu, allerdings in Grün und nicht in Royalblau, wie es einem Königssee angemessen wäre. "Bloß nicht reinspringen", ermahnt der Bootsführer dann noch beim Ausstieg. Das Wasser sei auch im Sommer zum Schwimmen zu kalt. "Wer als König in den Königssee springt, kommt als Königin wieder heraus."