Das Festival TRACK im mittelalterlichen Gent ist keine laute, schrille Ausstellung, sondern soll zum Dialog und Mitmachen anregen.

Gent in Flandern. Eigentlich weiß man nicht viel von der drittgrößten Stadt in Belgien - nach Brüssel und Antwerpen. Allenfalls, dass sie im flämisch sprechenden Teil liegt, einen mittelalterlichen Kern hat und einen kostbaren Schatz beherbergt - das berühmte "Lamm Gottes", ein Flügelaltar der Brüder van Eyck in der St.-Bavo-Kathedrale, vermutlich aus dem Jahre 1432. Kenner schwärmen auch von der köstlichen Schokolade, die in Gent produziert, und dem ausgezeichneten Bier, das dort gebraut wird. Wie avantgardistisch aber die rund 250 000 Einwohner zählende Stadt trotz aller pittoresken Beschaulichkeit ist, zeigt ein Besuch des Kunstfestivals "TRACK - Zeitgenössische Kunst zum Mitmachen!", das noch bis zum 16. September mit verschiedenen Ausstellungen ein Netz über die gesamte Stadt spannt.

Listig lotsen insgesamt 41 Künstler aus 17 Nationen die Besucher dabei auch zu Plätzen, die völlig abseits der touristischen Pfade liegen. Unspektakuläre Orte zumeist, manchmal auch ziemlich unattraktive, versteckt unter dem Abziehbild der heilen, putzigen Bilderbuchfassade.

Dabei wird an Sozialkritik nicht gespart, wie die Ansammlung von Bretterverschlägen von Tadashi Kawatama - einem der bedeutendsten Aktionskünstler in Japan - zeigt. Die Kaninchenstall-ähnlichen Boxen hat er an die Kaimauer im Wendebecken des Kanals gebaut und nennt sie "Favela von Gent". Kein Mensch würde sich freiwillig länger als notwendig an diesem stark befahrenen Verkehrsknotenpunkt am Bahnhof Gent-Dampoort aufhalten. Es sei denn, er besteigt den eigens für das Kunstobjekt gebauten Hochstand, um sich einen Blick auf die aussagekräftige Installation zu verschaffen.

+++Viel zu schön, um langweilig zu sein+++

Oder das Baumhaus des Belgiers Benjamin Verdonck im Vogelenzangpark als "skulpturales Selbstporträt" einer der darunter liegenden Sozialwohnungen - es soll das Verlangen nach einem Rückzugsort wecken, losgelöst von der tristen Realität.

Das gelungene Projekt der Stadt unterstreicht auch der Hamburger Kulturwissenschaftler Uwe Letwitsky - Schwerpunkt "Kunst im öffentlichen Raum" - bei seinen Vorträgen in Gent. "TRACK ist es gelungen, das Problem zu umgehen, Kunst als Instrument für Stadtmarketing zu nutzen und den Künstler als Kulturarbeiter vor den Karren zu spannen."

Auch Philippe van Cauteren, gemeinsam mit der Züricherin Mirjam Varadinis Kurator von TRACK und künstlerischer Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst S.M.A.K. in Gent, meint: "TRACK ist keine laute, schrille Ausstellung, sondern soll zum Dialog anregen. 3,6 Millionen Euro wurden dafür insgesamt investiert. Das Festival schreibt auch keinen speziellen Kulturpfad vor, sondern überlässt es den Besuchern, welche der 44 Kunstwerke an sechs Ballungspunkten sie ansteuern wollen." Alle sind gut zu erreichen mit Leihrädern, öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch zu Fuß. Van Cauteren, der ein paar Jahre als freiberuflicher Kurator in Hamburg gearbeitet hat, schätzt die Möglichkeiten des Festivals, mit der reichen Kultur von Gent bekannt zu machen.

Auch in den Weingarten der Abtei St. Pieters verirren sich Touristen eher selten. Der Italiener Massimo Bartolini hat in Anlehnung an die Bouquinisten am Seineufer in Paris zwölf Reihen grüner Regale aufgebaut, die mit rund 30 000 Büchern aller Sparten und Sprachen bestückt sind: "In dieser Oase des Friedens ist eine starke Konzentration spürbar. Beides - guter Wein und gute Bücher - erweitern das Bewusstsein." Die Bücher können gekauft oder gegen je ein anderes eingetauscht werden.

Obwohl etwas weniger spektakulär, geht die Arbeit von Emilio López-Menchero doch genauso unter die Haut: In einer stillgelegten Bibliothek in einer Gegend, wo hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund leben, tragen Leute aus der Nachbarschaft auf zwei Bildschirmen etwas vor: ein Lied oder eine Geschichte, die von ihren Wurzeln erzählen. Ungewiss ist auch die Zukunft eines besetzten Hauses, das der Holländer Mark Manders mit Skulpturen ausgestattet und vorübergehend in ein Kunstobjekt verwandelt hat.

Staunend steht der Betrachter in dem ehemaligen Boxklub Golden Gloves vor einem chaotischen Ungetüm aus verschiedenen Baumaterialien wie Bretter, Polyester, Wellblech und Teilen eines alten Karavans, scheinbar wahllos aufeinandergetürmt. Hüllen, hinter denen sich eine große Leere auftut.

"Das Leben ist wie ein Teller voller Spaghetti", sinniert der belgische Künstler Peter Buggenhout. "man weiß nie, wo sie enden. Oder was den Weg kreuzt. Am Ende des Lebens denkt man: 'Wo war der rote Faden?' Aber es gibt ihn nicht." Da können Gent-Gäste wohl eher mit einem ganz reellen, greifbaren Angebot, ebenfalls ein Ausstellungsstück von TRACK, etwas anfangen: das temporäre Hotelzimmer des japanischen Künstlers Tazu Rous an der 100 Jahre alten Turmuhr am Bahnhof Sint Pieters. In 23 Meter Höhe macht er im Hotel Gent das Thema Zeit anschaulich. Und Zeit sollte man auf alle Fälle für das gesamte Kunstfestival mitbringen, für die Ausstellungsstücke wie auch für den gewünschten Dialog.