Am 27. Oktober kommt Steven Spielbergs Film-Version in die Kinos. Den originalen Figuren wird derweil in der Comic-Metropole gehuldigt.

Hergé? Die Kellnerin im Kneipenrestaurant überlegt nur einen Moment, dann hebt sie zu einer Lobrede an, die in einer Liebeserklärung gipfelt: "Hergé ist wie der Manneken Pis. Hergé ist wie Jacques Brel. Hergé ist Belgien. Hergé ist gut."

Zu Hergé hat jeder Belgier eine Meinung - und fast immer ist es eine positive. Auch 28 Jahre nach seinem Tod ist der belgische Zeichner in Stadt und Land präsent wie kein Zweiter. 2009 öffnete in Louvain-La-Neuve sogar ein eigenes Hergé-Museum.

Natürlich geht es darin vor allem um seine bekanntesten Figuren, Tim, den rasenden Reporter mit Tolle und Knickerbockern, und dessen Foxterrier Struppi. 1929 bestanden die beiden in der Sowjetunion, noch arg ungelenk, das erste ihrer Abenteuer. Seitdemlösten sie bis 1976 in 25 Bändengeheimnisvolle Rätsel, überlebten wilde Verfolgungsjagden und hinterlistige Täuschungsmanöver - ohne auch nur einen Tag zu altern. 230 Millionen Hefte wurden verkauft, Übersetzungenfinden sich in 70 Sprachen und 30 Dialekten.

In dem kühnen, modernen Bau veranschaulichen Originalzeichnungen, wie der Autor von den ersten Skizzen jeweils zu seiner berühmten "klaren Linie" fand: Eindeutige Umrisse und einfarbige Flächen ohne Schatten oder Schraffuren wurden sein Markenzeichen. 228 Porträts von Bewohnern der schurkenreichen Tim-und-Struppi-Welt zieren einen Kronleuchter. Das Modell einer Rakete erinnert daran, dass Tim und sein Freund Kapitän Haddock die ersten Menschen auf dem Mond waren - im Jahre 1950. Filme und Fotos zeigen, wie Hergé den Kontakt mit Wissenschaftlern suchte, um seine Geschichten mit möglichst korrekten technischen Details zu unterlegen. Und Werbeplakate und Buchumschläge dokumentieren, über welch breites grafisches Talent der Zeichner verfügte.

Die Räume liegen im Halbdunkel, Plastikfiguren sind angestrahlt wie Preziosen, es herrscht strenges Fotografierverbot - eigentlich fehlt nur noch ein wenig Weihrauch in der Luft, und die Hergé-Kathedrale wäre perfekt. Seine zweite Frau hat das Museum errichten lassen. Da verwundert es nicht allzu sehr, dass hier viel gehuldigt und gar nicht kritisiert wird. Stoff dafür gäbe es: Der antikommunistische Furor des Erstlings, der kolonialistenfreundliche zweite "Kongo"-Band und auch Hergés Rolle während des Zweiten Weltkriegs im Dunstkreis von Kollaborateuren wären einige Anmerkungen wert. So aber bleibt vor allem das Bild des ewigen Pfadfinders in Erinnerung, der sich ein abenteuerliches Leben erfand, weil sein eigenes nur wenig aufregend war.

Gestattet das Hergé-Museum den Blick in eine eigene Welt, so erschließt ein Besuch im Comic-Museum in Brüssel gleich mehrere Universen. Hier sind sie alle vertreten, die Großen Belgiens ihrer Zunft: Ein Schlumpfmuseum mit Mini-Haus, Mini-Klavier und Mini-Harfe zeigt die Welt der kleinen Blauen, die der Zeichner Peyo 1958 aus dem Dunkel der Erde ans Licht der Öffentlichkeit zerrte. Lucky Luke steht plötzlich lebensgroß hinter der Saloon-Tür, Morris' unerschütterlicher und ein wenig tumper Cowboy, Blake und Mortimer ermitteln im Auftrag von E.P. Jacobs. Und natürlich ist auch Gaston vertreten, der faule, dumme, egoistische, aber dennoch sympathische Bürobote, samt dem gefleckten Marsupilami mit dem langen Schwanz, geschaffen von dem oft schwer depressiven Genie André Franquin.

All diese und noch mehr bunte Sprechblasenwelten sind versammelt in einem ehemaligen Textilkaufhaus von 1906, mit gläserner Kuppel, Eisensäulen und zierlichen Balustraden - feinster Jugendstil, von dem Brüssel einiges aufzuweisen hat.

Warum aber gelten gerade die Belgier neben US-Amerikanern und Japanern als eines der drei Comic-vernarrtesten Völker der Welt? Wie kommt es, dass hier allein im letzten Jahr 4000 neue französischsprachige Comics erschienen? Weshalb ringen gleich 800 hauptberufliche Zeichner um die Aufmerksamkeit von 10,5 Millionen Einwohnern? Willem de Graeve, den pfiffigen 35-jährigen Direktor des Museums, wundert das nicht: "Zum einen hat Hergés großer Erfolg viele junge Künstler inspiriert, sich ebenfalls in diesem Metier zu versuchen." Zum anderen stellen gerade in einem mehrsprachigen Land Bildergeschichten ein beliebtes, verbindendes Kommunikationsmittel dar - was auch den ursprünglichen Erfolg der Comics im Schmelztiegel New York erklärt.

Und so bieten unzählige Comic-Läden in der Hauptstadt ein breites Sortiment an alten und neuen Ausgaben. Die Boutique "Tintin" offeriert Tim als Schlüsselanhänger für fünf und die Gießharzskulptur für 1500 Euro. Das MOOF (Museum of Original Figurines) stellt jede Menge dreidimensionalen Comic-Schnickschnack aus. Und am Manneken Pis, dem überraschend kleinen Vorzeigepinkler, wo Heerscharen von Touristen sich mit sahnebestrichenen belgischen Waffeln bekleckern, turnen hoch oben Tim und Haddock über eine Treppenflucht. Es ist eines der 45 Comic-Wandgemälde, die seit 1991 die Stadt verschönern und bei einem eigenen Rundgang erklärt werden.

"Ich trinke Bier. Ich habe 1500 Comic-Hefte zu Hause. Ich bin verrückt. Ich bin ein typischer Belgier", stellt Stadtführer Didier Rochette sich vor, und die Vorliebe für das Nationalgetränk zeichnet sich unübersehbar hinter seinem Gürtel ab. Heute führt er auf Hergés Spuren in die Altstadt, ins Marolles-Viertel. Alte Fabrikschornsteine zeugen davon, dass hier einst Dampfmaschinen gebaut wurden, die restaurierten Arbeiterwohnblocks aus den 1920er-Jahren gelten inzwischen als schick. Der Flohmarkt auf dem Place de Balle ist vollgestellt mit den üblichen Bilderrahmen, Nachttöpfen und Keksdosen. Vergilbte Spitzendeckchen, verrostete Waffeleisen und zerfledderte Comicbände aber legen einen Schleier belgischen Flairs darüber. "Hier kauft Tim als Geburtstagsgeschenk für Kapitän Haddock ein Schiffsmodell - und kommt dann dem Geheimnis der ,Einhorn' auf die Spur", verrät der Führer. Ein paar Meter weiter leuchtet eine weitere Comicwand: Ein Polizist beobachtet durch ein Astloch ein Fußballspiel, während zwei Kinder lange Gesichter machen. Die Szene ist Hergés "Stups und Steppke" entnommen, den Abenteuern zweier abgerissener Straßenjungen. Sie passen noch immer hierher: Denn wenn auch inzwischen Besserverdienende ins Viertel drängen - noch ist das Marolles ein Quartier der einfachen Leute: Es gibt eine öffentliche Dusche, und das große Pfandhaus haben schon viele von innen gesehen.

Ein Aufzug fährt in die Oberstadt. Im Rücken den gigantomanischen Justizpalast, den der "verdrehte Architekt" Joseph Poelaert hingeklotzt hat, geht der Blick hinunter auf die überraschend grüne, überraschend abwechslungsreiche Stadt bis zum Atomium am Horizont. Von hier bringt die Metro die Besucher nach Stokkel. Und dort marschiert sie noch einmal auf, die Parade der Bösewichter, Sonderlinge und Helden: Rund 200 überlebensgroße Figuren aus dem hergéschen Kosmos ziehen an den Wänden des Bahnhofs vorbei, ein in den frühen 1980er-Jahren noch von ihm persönlich entworfenes Rätsel für die "Tintinologen", seine versiertesten Fans: Wer ist wer und, in welchem Heft taucht er zum ersten Mal auf?

Jetzt ist kein Halten mehr für den Fachmann Didier Rochette: "Hier kommt Ottokar, der König von Syldavien mit seinem Zepter. Der Waffenschmuggler im grünen Regenmantel ist Basil Zaharoff aus dem Gesicht geschnitten, einem echten damaligen Kriminellen. Da sind die Taschendiebe aus dem ,Einhorn', die Lamas in Tibet, der Gefängniswärter mit Spaghetti auf dem Kopf - wahrscheinlich waren die Nudeln für Bianca Castafiore, die Opernsängerin, wieder mal nicht al dente ..."