Früher waren die Touristen rar. Doch seit die Grenze zwischen Süd- und Nordzypern durchlässig ist, kommen auch viele Naturliebhaber in den Norden.

Der Wind scheint sich hier auszuruhen. Nur ganz sacht streichelt er die Orchideen, den Mohn und die Blüten am Mandelbaum. Vor den rissigen Mauern der Kapelle hält er den Atem an, als hätte er Respekt vor der alten Dame aus dem 12. Jahrhundert, die ihre Kuppel trägt wie einen Sonnenhut. Die ehemalige Klosterkirche Antiphonitis liegt versteckt in den Bergen oberhalb von Esentepe in Nordzypern. Es ist so still, dass man meint, das Meer am Horizont rauschen zu hören. Die Sonne brennt Fatih in den Nacken. Er faltet die Zeitung zusammen und schiebt seinen Plastikstuhl in den Schatten. Oft sitzt er einfach nur da und lauscht dem Zirpen der Grillen oder beobachtet einen Salamander, der sich auf den warmen Steinen sonnt. Fatih Kavalci hat den wohl ruhigsten Job der Welt: Er behütet einen Schatz vor möglichen Kunsträubern. Er ist Wächter der Antiphonitis.

Trotz Hitze trägt der gebürtige Türke einen Pulli über dem gebügelten Hemd. Früher lebte er in Hamburg und hat Autos nach Zypern verkauft. "Das war sehr stressig, jetzt freue ich mich, wenn Leute vorbeikommen, aber auch, wenn sie wieder gehen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, woanders zu arbeiten", sagt der Wächter, dem die Einsamkeit inzwischen ans Herz gewachsen ist. Anders als viele seiner Landsleute redet er leise und langsam: "Klar hatte ich anfangs Langeweile, deshalb habe ich im Ort Werbung für die Besichtigung der Kirche gemacht." Jetzt kommen immerhin 1000 Besucher im Jahr. Dann schließt er den Weg ins 12. Jahrhundert auf: Drinnen leuchtet die Sonne durch schmale Fenster. Es muss eine stark geschminkte Kirche gewesen sein. An Wänden, Säulen und der Kuppeldecke leuchten noch die Farben der Fresken. Ein Heiligenbild ist fast komplett aus der Wand gehauen. Es tauchte auf einer Versteigerung in England wieder auf, wurde beschlagnahmt und in ein Museum gebracht. Seitdem bewachen Fatih und sein Kollege abwechselnd die einzige Acht-Säulen-Kirche ihrer Art auf Zypern. Einmal kam es zu Handgreiflichkeiten - nicht mit Räubern, sondern mit griechisch-zypriotischen Touristen, die sich weigerten, Eintritt zu zahlen. Vor der Teilung Zyperns 1974 in einen griechischen und einen türkischen Teil lebten sie womöglich in der Nähe und kamen zum Beten her. "Viele verstehen nicht, dass wir nun Geld nehmen, um das Gebäude zu bewachen und instand zu halten", sagt Fatih.

+++Wo Gastfreundschaft noch keine Floskel ist+++

In Nordzypern gibt es mehr historische Gebäude als Dönerbuden in Hamburg. Seitdem die Grenze 2004 für Ausländer geöffnet wurde, besichtigen Urlauber die Ruinen von Salamis, einer einstigen antiken Stadt Zyperns, das Kastell im malerischen Hafen von Girne oder eine der verlassenen Kirchen. Die Glocken sind verstummt, da kaum noch Griechen im Nordteil der Insel wohnen. Stattdessen wachsen Minarette wie Zahnstocher in den Himmel und der Ruf des Muezzin schallt über Wiesen und Felder. Doch nicht nur wegen der alten Mauern lohnt sich ein Besuch. Immer mehr Natur-Urlauber entdecken das Fünffingergebirge als Wanderrevier. Dort führt Marina Cetinaslan am nächsten Tag auf verschlungenen Wurzelpfaden durch den Alefkaya-Forst. Bienen surren, Schmetterlinge flattern. Es riecht nach Thymian, Salbei und dem würzig duftenden Unkraut "Klebriger Aland". Marina kennt fast jede Pflanze im Wald. Sie zeigt Erdbeerbäume mit schlanken Stämmen, deren Blüten wie Maiglöckchen aussehen, und eine Terpentin-Pistazie; sie lieferte früher Öl zur Behandlung von Leder. Der weiß blühende Hilarion-Kohl, der - seinem Namen zum Trotz - eine Orchidee ist, kommt nur in Nordzypern vor. An einer alten Klosterruine stoppt Marina für eine Pause und verteilt Cezeriye - Karottenplätzchen mit Nüssen. Vor 24 Jahren heiratete die Baden-Württembergerin einen türkischen Zyprioten und lebt seitdem auf der Insel. "Damals konnte man noch im Dorfladen anschreiben lassen", erinnert sie sich. "Dann wurden Wachstum und Wirtschaft immer wichtiger. Ganz langsam besinnt man sich nun wieder auf die alten Werte und die Natur."

Das Dorf Büyükkonuk bietet besonderen "Zurück-zur-Natur-Tourismus". Es liegt am Fuße des Fünffingergebirges. Hier scheint die Zeit vor einigen Jahrzehnten stehen geblieben zu sein. Esel grasen im Schatten der Johannisbrotbäume, Hirten treiben am Nachmittag ihre Schafe in den Stall. Im Vorgarten eines Hauses hängt Käse zum Trocknen an der Wäscheleine, eingehüllt in Perlonstrümpfe. Nach alter Tradition stellen die Landfrauen Hellim her, eine Art Mozzarella, der bei Wärme nicht schmilzt und beim Essen im Mund quietscht wie Kaugummi. "Ich mag ihn am liebsten ganz frisch, nur mit etwas Zucker drauf", schwärmt Restaurantbesitzerin Serife Aribey und schöpft mit einem Sieb Frischkäsebrocken aus dem Kessel. Sie trägt goldene Ohrringe und ein Kopftuch mit Blumen bestickt. Ihr Leben lang hat sie Hellim gemacht. "Es ist verrückt, dass auf einmal Urlauber dabei zuschauen und sogar bei der Arbeit mithelfen wollen", wundert sie sich. Seit Kurzem kann man am Dorfleben teilnehmen, Brot backen, beim Ziegenmelken helfen oder Artischocken, Oliven und Orangen ernten.

+++"Urlaub bleibt die populärste Form des Glücks"+++

Im Garten des Meranda-Hauses in der Nähe von Famagusta erinnert eine alte Olivenmühle aus Stein daran, wie schwer es gewesen sein muss, Olivenöl herzustellen. Dort jongliert Mustafa Kiral mit einem Tablett voller Bierflaschen zwischen den Beeten. Der Mann mit Arbeiterhänden und Seefahrerbart hat an diesem Tag keinen ruhigen Job. Gerade ist eine Gruppe Radfahrer angekommen. Mustafa ist einer der vielen türkischen Zyprioten, die während des Bürgerkrieges aus ihrer Heimat im Süden vertrieben wurden. Nach vielen Jahren Heimweh baute er hier das Natursteinhaus seiner Eltern originalgetreu nach. Um die Kultur zu bewahren, haben er und seine Frau Leyla darin kürzlich ein Museum eingerichtet, das die Lebensart der vergangenen Jahrhunderte zeigt. Im Wohnzimmer fotografieren sich die Radfahrer - noch mit Helm auf dem Kopf - vor den Holzkommoden mit Spitzendeckchen, im Schlafzimmer vor einer Kinderwiege, die von der Zimmerdecke baumelt. "Ich freue mich, dass sich so viele junge Menschen für das frühere Bauernleben interessieren", sagt Leyla, die darüber ein Buch geschrieben hat, und schenkt Tee aus Omas Porzellankanne nach.

Jeden Sonntag trifft sich die Fahrradgruppe und radelt zu den schönsten Ecken Nordzyperns. Mal besichtigt sie eine Burg, mal ein Kloster, und immer kehrt sie irgendwo ein auf Köfte und Kebab, Bier oder den Joghurtdrink Ayran. Eine Tour führt in die dünn besiedelte, ländliche Region Karpaz, die wie ein Zeigefinger ins Meer ragt. Auf den Wiesen greifen Kronenwucherblumen nach den bröckeligen Feldmauern. Von zwei Seiten brandet das Meer an die mehlfeinen Strände, an denen im Sommer Meeresschildkröten ihre Eier ablegen. "Es ist faszinierend, sie unter Wasser zu beobachten", sagt Radler Firuz Aytun, "aber sobald sie einen bemerken, schießen sie davon." Wenn er es sich finanziell je leisten kann, will der drahtige, junge Mann eine Unterwasserkamera kaufen und einen Tauchfilm drehen. Ein Traum wäre für ihn die Eröffnung einer Tauchschule. Davon gibt es im Norden erst eine Handvoll. Bis dahin arbeitet er weiter als Tontechniker beim Radio. Demnächst muss Firuz ein Konzert im Kloster Bellapais aufnehmen. Es ist die Ruine mit dem höchsten Romantikfaktor und die Perle eines ebenso malerischen Bergdorfes, zwischen Orangen- und Zitronenhainen. Vor den Torbögen der Abtei stand einst ein gefährlicher Maulbeerbaum. So warnte der britische Schriftsteller Lawrence Durell in seinem Roman "Bittere Limonen": "Setzen Sie sich nicht unter den 'Baum des Müßigganges'. Sein Schatten macht den Menschen unfähig zu ernster Arbeit." Besonders erholsam ist es am Abend, wenn die Touristen und die Wächter gegangen sind. Scheinwerfer hüllen die Klostermauern in zauberhaftes Licht, und aus den Gewölben klingt leise klassische Musik. Fatih würde es hier sicher auch gefallen.