Ein Teilstück des Rio Grande auf Jamaika wird auch mit Bambus-Flößen befahren. Die schwimmenden Untersätze bauen die Steuermänner meist selber

Noch kommt niemand zur Ruhe, alle sind aufgepeitscht vom Rhythmus des Reggae, der aus allen Lautsprechern schallt, aus Radios in Bussen und Taxis und aus den Open-Air-Klubs auf Jamaika. Doch jedes Eintauchen der Stake lässt uns ein wenig mehr herunterfahren, bis der Herzschlag sich ganz diesem neuen, unaufgeregten Rhythmus anpasst, den der Fluss diktiert und dem das Bambusfloß gehorcht.

Port Antonio liegt im Nordosten der Karibikinsel. Ein paar schmucke Kolonialgebäude gibt es dort zu sehen und einen Markt voller tropischer Früchte, lokaler Handwerkskunst und T-Shirts mit dem Konterfei des Nationalidols Bob Marley. Ein bisschen außerhalb dient die Bucht Frenchman's Cove als Kulisse für Modeaufnahmen mit berühmten Models.

Teure Yachten dümpeln in der Marina Errol Flynn, und wie aufs Stichwort erscheint dort Patrice Wymore Flynn, die dritte und letzte Ehefrau des amerikanischen Schauspielers. Eine Ikone ist die 84-Jährige, die selber einmal Schauspielerin war, noch immer. Ein Hauch von Hollywood umweht die schmale Gestalt mit dem schönen Gesicht unterm Strohhut. Dass sie jetzt Kokosnüsse von rund 50 000 Palmen verarbeiten lässt und Rinder züchtet, sieht man ihrer eleganten Erscheinung nicht an. Sie zeigt auf das vorgelagerte Eiland Navy Island, auf das verwitterte Holzhaus am Strand. "Dort", sagt sie lächelnd, habe sie mit "diesem unglaublichen Mann", der viel älter war als sie, Anfang der 50er-Jahre eine "wundervolle Zeit" verbracht. Dass er auf Mondscheinfahrten per Floß auch mit anderen Frauen unterwegs gewesen sein soll, mehr als einmal, aber nie zweimal mit der Gleichen, sagt sie nicht.

Bei einem Sturm war der smarte Verführer auf dem Weg zu den Galapagos-Inseln mit seiner Yacht hier gestrandet. So gut gefiel ihm der Hafen, dass er den Törn in Port Antonio beendete, sich auf Navy Island ein Haus baute und mit berühmten Freunden wie Bette Davis, Ginger Rogers, David Niven, Noël Coward und Ian Fleming Hollywoodglamour nach Jamaika brachte. Da der Rio Grande für herkömmliche Boote zu flach war, wurden von Port Antonio - bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein florierender Umschlaghafen für Bananen - die Stauden auf Bambusflößen verschifft. Flynn ließ als Erfinder des Bamboo Raftings auf Jamaika eine Sitzbank für je zwei Personen auf die Bambusstämme zimmern, um Freunde auf Flusstouren im Flottenverband einzuladen und wohl auch, um der jeweiligen Begleiterin näherzukommen. Eines Nachts soll er so in Wallung geraten sein, dass er das Floß samt Dame im langen Kleid zum Kentern brachte. Seitdem ist Rafting nachts verboten.

Kein Problem für die meisten Touristen, die in der heißen Sonne der Karibik schauen, fotografieren, filmen und entschleunigen wollen. Frauen verkaufen kalte Getränke, Kinder bieten jamaikanische Tulpen an - wir warten auf die Flöße. Wie aus einer anderen Zeit steuern sie, mit einer langen Stange navigiert, langsam auf die Anlegestelle zu. Aus etwa acht bis zwölf rund zehn Meter langen Bambusrohren gebunden, vorne trapezförmig zugehend, sollen sie uns den Rio Grande hinuntertragen. Eins ist mit Blumen geschmückt - als Loveboat für Honeymooners.

Buddy heißt unser Steuermann, einer von 110 Kapitänen, die beim Bamboo Rafting im Einsatz sind. Ihre schwimmenden Untersätze bauen sie meist selber, nur ein paar Monate halten sie, dann müssen neue Bambusstämme zusammengebunden werden. So sieht man Flöße ganz unterschiedlicher Schattierungen, von hell- bis dunkelbraun, je nachdem, wie alt die Hölzer sind. Transportmittel ganz aus Naturmaterialen und völlig geräuschlos - umweltfreundlicher geht's nicht!

Wie viele Flöße Buddy im Laufe seines Lebens gebaut hat, kann er nicht mehr sagen. Fünf Jahre lang musste er das Navigieren lernen, erzählt er, erst dann habe er die Lizenz als Floßkapitän erhalten. 61 Jahre alt ist er, vier Kinder und vier Enkel hat er, die er mit dem Verdienst von rund 27 Euro pro Trip unterstützt. Etwa neun Euro davon erhält der Junge, der das Floß zur Einstiegsstelle zurückbringt, und circa 4,50 Euro muss Buddy für das Taxi zahlen, das ihn selber wieder hinfährt. Zwei Touren am Tag schafft er, "aber nur, wenn ein Kreuzfahrtschiff in Port Antonio festmacht und Passagiere bringt". Das ist nur noch selten der Fall, da die meisten Passagierdampfer inzwischen in Ocho Rios oder Montego Bay und ab 2011 auch im Falmouth Port anlegen.

Barfuß steht Buddy vorn auf dem Floß und manövriert es geschickt durch enge Felsformationen und gefährliche Stromschnellen. "Manchmal", sagt er, "bieten sie flussaufwärts so viel Widerstand, dass die Jungs auf dem Rückweg das Floß mit einem Seil vom Ufer aus ziehen müssen." Streckenweise ist das Wasser so flach, dass sich der Steuermann mit der Stake von den Steinen, die aus dem Wasser ragen, abstoßen kann. Während der Fahrt dürfen die Passagiere aussteigen, eine Weile ohne Hast neben dem Floß herschwimmen oder auf Sandbänken mitlaufen.

Für Abwechslung sorgen Wettfahrten, die sich die Bootsmänner des Flottenverbands liefern. Dann staksen sie mit den Bambusstangen wie verrückt in den Fluss, die Passagiere bekommen unter viel Gelächter Spritzer ab.

"Das ist die schönste Insel, die das Auge je gesehen hat", soll Christoph Kolumbus 1494 bei seiner Ankunft über Jamaika geurteilt haben. Dabei hatte er den Rio Grande noch gar nicht entdeckt. Wie eine sattgrüne Filmkulisse ziehen die Ufer rechts und links unseres Konvois entlang. Bananen- und Zuckerrohrplantagen wechseln sich ab, und manchmal wächst dichter Urwald bis ins Wasser hinein. Exotische Vögel begleiten uns, Reiher picken nach Fischen, Kinder laufen am Ufer mit, ein Rastaman kommt uns auf einem Floß entgegen und bietet Getränke an.

34,3 Kilometer zieht sich der Rio Grande als einer von 140 Flüssen auf Jamaika von den Blue Mountains bis zum Meer. Doch nur auf einer Strecke von elf bis 13 Kilometern sind die Flöße unterwegs. Zwei bis drei Stunden dauert die Fahrt, je nach Einstiegsstelle, Fließgeschwindigkeit und Kraft des Bootsmanns. Immer breiter wird der Fluss, bald mündet er in die karibische See. Am Rafter's Rest in Margaret's Bay legen wir schließlich wieder an.

"Cool runnings!" lautet der inoffizielle Gruß der Jamaikaner. "Entspann dich!" heißt es frei übersetzt. An kaum einem anderen Ort der Insel trifft die Empfehlung wohl so zu wie beim Bamboo Rafting auf dem Rio Grande.

Video: Bamboo Raft auf dem Rio Grande