Wer in die Antarktis reist, der lässt bekannte Eindrücke hinter sich - und wird dafür mit gewaltigen Naturschönheiten belohnt.

Antarktis. Und dann ist da wieder dieses Geräusch, das sich anhört, als fahre jemand mit einem gewaltigen Messer über den Boden einer gigantischen Aludose, "krrschzzssht!" beginnt es irgendwo vorne und verschwindet dann über die Seite, "krrschzzssht!". Das geht jetzt schon seit Stunden so. Immer dann, wenn der Schiffsbug eine große Scholle zerschmettert und die Eisbrocken anschließend am Rumpf entlangschreddern, immer dann hört man das bis hinauf aufs Aussichtsdeck und spürt es bis in die Knochen. Anfangs war das unheimlich, die Passagiere machten Witze, einer pfiff die Titelmelodie aus der "Titanic", die anderen lachten übertrieben. Mittlerweile wundert man sich nur noch, dass es nicht noch viel häufiger rummst und kracht und "krrschzzssht!" macht: Da draußen sind Hunderte Eisberge und Eisschollen. Tausende. Zehntausende. Sie sind vorne, hinten, links und rechts. Sie sind überall.

Kapitän Steinar Hansen war sich bis heute Morgen nicht sicher, ob er überhaupt hineinfahren sollte in den Lemaire-Kanal: Normalerweise gibt es hier kein Durchkommen. Kapitän Hansen aber hat auf seiner Brücke wohl geahnt, dass das heute sein Glückstag sein könnte, eine jener raren Passagen, an denen alles stimmt, kein Wind, keine Wolke, keine Eisberg-Barriere, und dass er die MS "Fram" hier durchbugsieren würde bis hinaus aufs offene Meer auf der anderen Seite. Deshalb schieben wir uns seit ein paar Stunden mit permanenten "Krrschzzsshts!" durch einen immer enger werdenden Canyon aus Eis: Das erste Schiff in diesem kurzen antarktischen Sommer, und so gut wie sicher auch das letzte. Sogar die Robben, die auf den Schollen vorbeitreiben, schauen erstaunt.

Eine Reise in die Antarktis: Das ist auch im Zeitalter alles erfassender Satellitentechnik noch immer eine Fahrt ins Ungewisse. Man kann nämlich noch so viel zu wissen glauben über Buchten und Landeplätze am Rande des ewigen Eises, aber dann kommt man an, und alles ist anders. Vielleicht hat sich der Wind entschlossen, auf Orkanstärke aufzudrehen. Oder ein Eisberg von der Größe der Cheopspyramide blockiert die Zufahrt. Dicker Nebel, hoher Wellengang oder eine Herde zornig fauchender Seelöwen, die partout keine Schlauchboote anlanden lassen wollen - es gibt hier viele Faktoren, die einen fein ausgeklügelten Tagesplan ratzfatz zunichte machen. Und einen anderen ins Spiel bringen. Was die Passagiere zumindest an den ersten Tagen nicht stört: Hier ist nämlich alles derart spektakulär, dass man sich nicht wirklich dafür interessiert, ob man nun die Halfmoon Bay anläuft oder doch eher vor der Petermann-Insel ankert.

Wenn sich der antarktische Kontinent nach zwei Tagen Fahrt von Ushuaia aus allmählich herausschält aus dem Dunst am Horizont, sieht er ziemliuch unwirklich aus. Eher wie ein Trugbild. Eine Schimäre. Eine Fantasie, in die man hineinfährt. Und wahrscheinlich gibt es keinen anderen Ort auf diesem Planeten, an dem man sich so schnell derart abgeschnitten fühlt wie hier, abgeschnitten vom Rest der Welt, abgeschnitten von dem, was man wusste und kannte, abgeschnitten von seinem, ja, doch: bisherigen Leben. Wer die Antarktis besucht, fühlt sich schon bald wie ein Reisender am Ende der Zeit, driftend in einem Paralleluniversum der Unwirklichkeit, in dem Wind und Treibeis die Landschaft modellieren. Und sich die Dimensionen einen Teufel um die menschliche Wahrnehmung scheren.

Die Eisberge zum Beispiel. Tauchen plötzlich vor den Bullaugen auf wie Gebilde, die aus einem surrealistischen Gemälde von Dalí gepurzelt sind, mal backbord und mal steuerbord und regelmäßig größer, als es einem Himmel und Horizont vorgaukeln. Manchmal sieht man das Scoutboot der MS "Fram" auf einen dieser Eisberge zufahren, der winzig in der Kälte des Meeres treibt. Ist das Boot neben ihm, erkennt man, dass er groß ist wie ein Apartmentblock. Und die kleinen Punkte oben auf ihm drauf? Sind ausgewachsene Pinguine.

Was? Na klar sind die überall. Meistens stehen Tausende von ihnen genau an jener Stelle herum, an der die Boote anlanden. Pinguine haben ein miserables Kurzzeitgedächtnis; selbst, wenn in ihrer Bucht drei Tage zuvor andere Besucher gewesen wären, hätten sie das längst vergessen. Deswegen schauen sie einen erst einmal an, als komme man aus einer anderen Welt. Bevor sie dann offensichtlich beschließen, dass es sich bei den Neuen um Artgenossen handelt, merkwürdig überdimensioniert zwar, aber was soll das denn schon anderes sein, die gehen ja auch auf zwei Beinen. Ist man erst einmal als Pinguinkollege akzeptiert, gibt es keine Hemmungen mehr. Alsbald watscheln sie einem über die Gummistiefel, stellen sich in den Weg oder bringen sich für die Morgentoilette in Position (wer es genauer wissen möchte: einer Verbeugung nach vorne folgt ein meterlanger, übel riechender Strahl). Und wenn man sich auf einen Stein setzt und sie beobachtet, muss man damit rechnen, dass sie über kurz oder lang versuchen, den Rucksack anzufressen oder auch die Hose. Stoßen sie dabei auf Schwierigkeiten, schlagen sie aufgeregt mit ihren Stummelflügeln und krächzen ohrenbetäubend. Anders gesagt: Manchmal ist man froh, wenn einen die Schlauchboote zurück zum Schiff bringen. Es wird einem ohnehin schnell kalt draußen auf dem Eis.

Welch einen Unterschied das Wetter hier macht! Bei Sonnenschein ist die Antarktis pompös und majestätisch, die tiefgefrorene Märchenwelt der Schneekönigin, zu der im Kopf eine Symphonie mit Pauken und Trompeten loslegt, als kämen die Walküren vom anderen Ende der Welt hinuntergaloppiert. Weil das Meer so stahlblau ist, erscheint das Eis gleißend weiß, und weil das Eis so weiß ist, sieht es obendrüber aus, als solle der Begriff "Himmelblau" neu definiert werden. Aber wehe, Wolken ziehen auf oder Nebel! Dann pfeift der Wind, und die Pinguine rücken zusammen, und die Antarktis gehört von einer Minute auf die andere zu jenen Landschaften, die einem unmissverständlich signalisieren, dass sie keinerlei Spaß verstehen. Das sind dann jene Tage, an denen man erkennt, weshalb der Mensch es hier nie lange ausgehalten hat - und sich absetzte, sobald sich eine Möglichkeit eröffnete. Wie in der Halfmoon Bay, wo die Ruinen einer Walverarbeitungsanlage stehen. Die rostigen Tanks und Kessel sehen aus wie die Überreste einer außerirdischen Zivilisation, die einst hier Fuß fassen wollte und es sich dann doch anders überlegt hatte. Auch die britische Station "Base E" auf Stonington Island ist längst verlassen. In den Regalen stapeln sich alte Konserven, auf dem Tisch stehen Gläser und Teller, es scheint, als seien die Forscher nur mal kurz um den Block - nach einem Aktfoto von Raquel Welch auf der Herrentoilette muss das allerdings so um 1976 gewesen sein. Seitdem war hier niemand mehr. Bis auf ein paar Touristen.

Vielleicht ist es auch dieses Gefühl der Verlassenheit, das dieses Land so besonders macht. Es gibt keine Geschichte, zumindest keine, die wir erfassen könnten, alles ist Eis, Wasser und Schnee, weshalb man hier ganz schnell daran zweifeln kann, ob es gerade wirklich 2011 ist - und nicht vielleicht 1017 vor Christi oder 433 nach. Solche Momente erwischen einen immer wieder auf dieser Reise, Augenblicke, in denen man nicht so recht weiß, woran man ist. In denen man zwar genau sagen kann: Das dort hinten ist mein Schiff, da vorne fotografieren die anderen eine Robbenkolonie, ab 19 Uhr gibt es Abendessen - und dennoch fühlt man sich seltsam orientierungslos und ein wenig verloren. Die Antarktis ist der einzige Ort der Welt, der sich anfühlt, als liege er nicht auf ebendieser Welt. Sondern anderswo. In einer anderen Zeit, in einem anderen Raum. Vielleicht nur in der eigenen Imagination. Und nur, weil Kapitän Steinar Hansen soeben über Bordlautsprecher verkündet, der Lemaire-Kanal sei durchquert, und weil die Passagiere jubeln und die Mannschaft sich gegenseitig abklatscht, es noch einmal "krrschzzssht!" macht, wie zum großen Finale - nur deshalb ist man sich sicher, dass man wirklich da ist, wo man zu sein glaubt.