Kurve um Kurve quer durch Landschaften voller Zauberberge: Die “Route des Grandes Alpes“ führt vom Genfer See bis zum Mittelmeer

Manches muss man erlebt haben, um später davon träumen zu können. Am ultramarinblauen Himmel, hoch über einem, steht als funkelnder Kristall die Sonne. Unter den Schuhen knirscht steinhartes Eis, das selbst jetzt, im Sommer, nicht schmelzen will.

Auf 2764 Metern liegt der Col del'Iseran, der höchste Pass der Alpen - ein planerisches Meisterwerk, doch die Natur kann viel höher: Schneebedeckte Dreitausender beherrschen das Panorama. Gletscher blinken über grauem Geröll, darunter liegt wie ein Mantel das Grün der Weiden. Und dazwischen schlängelt sich eine Straße, wie es sie in den Alpen nicht noch einmal gibt.

Superlative sollte man verwenden wie einen Bumerang, denn wer sie nicht mit Gefühl wählt, den treffen sie am Ende schmerzhaft. Doch der "Route des Grandes Alpes", die von Thonon-les-Bains am Genfer See bis nach Menton am Mittelmeer führt, macht keine andere Tour den Titel "Königin der Alpenstraßen" streitig. Auf den 684 Kilometern findet man die wenigen Geraden vor allem auf den Nationalstraßen, der Rest sind Kurven - gezählt hat sie noch niemand, aber es dürften zwischen 10 000 und 15 000 sein.

Um von der Lieblichkeit des Alpenvorlands bis in die schroffen Landschaften des Hochgebirges und wieder hinunter zum Blau der Cote d'Azur zu gelangen, bezwingt man als Autofahrer 16 Alpenpässe. Sechs sind mehr als 2000 Meter hoch, legendäre Hindernisse der "Tour de France", und nur im Sommer schneefrei. Die Route des Grandes Alpes ist sicher nicht der schnellste Weg über die Alpen. Aber vielleicht der schönste.

Der Abschied ist stürmisch. Ein starker Wind bläst über den Genfer See, zaubert Schaumkronen auf die Wellen, jagt weiße Wölkchen über den Himmel. Eigentlich beginnt die Strecke erst ein paar Kilometer weiter in Thonon-les-Bains, doch wir haben die Nacht lieber in Yvoire verbracht, einem charmanten mittelalterlichen Dörfchen, wo einen das Kling-Klang der Segelboote im Hafen in den Schlaf wiegt. Yvoire zählt zu den schönsten Dörfern Frankreichs, und Adel verpflichtet - weshalb Schlossbesitzer Yves d'Yvoire seinen alten Gemüsegarten in ein über die Grenzen der Region hinaus bekanntes Naturparadies verwandelt hat.

Im "Garten der fünf Sinne" darf man Pflanzen erriechen und ertasten, kann Wasser plätschern und Vögel singen hören, den sanften Farbverlauf der Blumen sehen und (leider nur mit den Augen) Früchte und Gemüse probieren. "'Eile mit Weile' ist nicht nur die Devise der Gärtner, sondern auch die unserer Familie", sagt nachdenklich der Schlossherr in seinem Büro, das den Garten überblickt. Eigentlich ist das auch ein gutes Motto, wenn man die Alpen überqueren möchte.

Es geht nach Süden, quer durch das Chablais, der ersten Bergkette der Voralpen. Noch ist die Straße breit, schlängelt sich durch Wald und Wiesen, bald aber auch an steil aufragenden Felsen entlang. Um sich die Beine zu vertreten, bevor es ins Gebirge geht, lohnt ein Spaziergang durch die Schlucht an der Teufelsbrücke (Gorges du Pont du Diable), geformt vom Schmelzwasser der Alpengletscher. Die ersten vier Pässe sind noch sanfte Anstiege, bleiben alle unter einer Höhe von 1650 Metern. Der Berg der Berge, der Mont Blanc, leuchtet als Wegweiser im Abendlicht.

Am nächsten Tag, nach dem Probieren von ein wenig Beaufort-Käse in Beaufort, sorgen dann drei gleichermaßen faszinierende Szenerien für alpines Hochgefühl. Im glasklaren Wasser der Barrage de Roselend spiegeln sich die umliegenden Gipfel. Direkt neben der Straße steht eine Kapelle - wer auf ihren Stufen die morgendlichen Sonnenstrahlen einfängt und das Panorama genießt, fühlt sich dem Himmel ganz nah. Auch die Route des Grandes Alpes führt weiter nach oben: Quer durch eine Hochebene, in der Murmeltiere pfeifen und Bäche voller Gischt ins Tal streben. Höhepunkt ist die Auffahrt zum Col de l'Iseran: Direkt am Hang geht es Kurve um Kurve, Vegetationszone um Vegetationszone, Ausblick um Ausblick in die sonst unerreichte Passhöhe von 2764 Meter - ein Hin und Her, das süchtig machen kann.

Solche Straßen sind mit jedem Fahrzeug ein Erlebnis, erst recht aber mit einem Oldtimer. Besitzer Franz Maag steuert einen 1928 gebauten Wagen, einen Mercedes-Benz vom Typ SS. "Die Landschaft ist erhaben, und jeder Pass ist ein Erlebnis. Der Wagen kann hier zeigen, was in ihm steckt", sagt der 65-Jährige. Die für ein Vorkriegsfahrzeug enorme Leistung von 170 PS plus die noch einmal 80 PS des Kompressors sorgen für Schub - selbst bei Anstiegen von 15 Prozent zieht der Klassiker so zügig die Berge hoch, als hätte er einen Raketenantrieb. So ähnlich klingt er dann aber auch: Im Tunnel gleicht der "Super Sport" einem Jumbojet.

Ein legendäres Auto ist da also vom Genfer See ans Mittelmeer unterwegs, und das auf einer ebenso legendären, wenn auch außerhalb Frankreichs kaum bekannten Strecke. Die Route des Grandes Alpes ist nämlich keine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts - ihre Ursprünge liegen etwa 100 Jahre zurück. Der Touring Club de France hatte 1909 die Vision, die verschiedenen Gebiete der Alpen mit Straßen zu verbinden und sie so für Besucher zugänglich zu machen; viele abgelegene Täler waren damals nur marginal durch historische Pfade verbunden. Prominente engagierten sich, die Öffentlichkeit war interessiert, die Politik spielte mit. Und so war schon knapp 30 Jahre später das Ziel einer durchgehenden Nord-Süd-Verbindung erreicht. 1970 wurde dann der Cormet de Roselend eröffnet, und die Route erhielt ihre endgültige Streckenführung durch fünf französische Departements. Weil es inzwischen deutlich schnellere und einfachere Alternativen für eine Fahrt durch die Alpen gibt, verliert sich auf der Route des Grandes Alpes der Verkehr - ideal also für Besucher, denen der Genuss der vorbeiziehenden Landschaft wichtiger ist als die "verlorene" Zeit.

Denn die Szenerie verändert sich ständig. Hinter Valloire und seiner barocken Kirche verlässt man bald die Savoyen, um in der Provinz Provence-Alpes-Cote d'Azur anzukommen. Den Col du Galibier darf man indes noch bewältigen, auch er führend in der Champions League der Alpenpässe. Eine Schafherde kreuzt unbekümmert die Straße, auf der Suche nach grünen Halmen im bräunlichen Grasteppich jenseits der Baumgrenze. Weiße Lettern auf der Straße sind Relikte der Tour de France und eine Bestätigung für Hobbyradfahrer, die Steigungen bis zu 14 Prozent auf sich nehmen, dass es andere vor ihnen auch schon geschafft haben. Wer in den Kurven anhält, wird mit Blicken auf schimmernden Schiefer belohnt - und erkennt, dass der Stein bunt leuchten kann wie ein Regenbogen.

Im Winter aber war es hier dunkel, kalt und einsam. Die meisten Menschen im Tal der Ubaye fanden sich mit der alljährlich wiederkehrenden langen Eiszeit ab. Andere versuchten ihr Glück im Ausland - mit Erfolg: Anfang des 19. Jahrhunderts machten sich die Gebrüder Arnaud von Barcelonnette auf den Weg nach Mexiko und bauten sich dort mit Kaufhäusern ein Handelsimperium auf. Vom Erfolg angelockt folgten ihre Nachbarn aus den umliegenden Dörfern. Die Auswanderer aus dem abgeschiedenen Alpental kontrollierten bald die Textilindustrie der neuen Welt, ihre Fabriken beschäftigten Zehntausende von Arbeitern. In der alten Heimat bauten sie sich daraufhin ein halbes Jahrhundert lang imposante Villen und Paläste. Das Musée de la Vallée in Barcelonette ist eines davon und definitiv einen Stopp wert - weitere Schmuckstücke sieht man nur hinter hohen Hecken. Jedes Jahr im Sommer aber tanzt die Stadt bei einem Festival zu südamerikanischen Rhythmen ...

Wenn man schon glaubt, das Salz des Mittelmeers riechen zu können, wenn man sich auf Sonne und See freut und darauf, an der Cote d'Azur einige Tage ausspannen zu können, kommt der Col de Turini. Der Pass war das Highlight jeder Rallye Monte Carlo, die Etappe hieß am Ende intern nur noch "Nacht der langen Messer". Vom Tal der Vésubie geht es hinauf auf den Pass, dann mit einer grandiosen Abfahrt voller Haarnadelkurven durch die letzten Ausläufer der Seealpen hinunter nach Sospel. Ein spektakulärer Abschied.

Mentons Zitronen locken, die edlen Restaurants mit ihrer mediterranen Küche, die mondäne Küste, das bisweilen türkisgrüne Meer. Doch die Alpen scheinen wirklich Zauberberge zu sein - süchtig machen sie auf jeden Fall. Die Vielfalt der Landschaft, die spannenden Geschichten am Straßenrand und die kulinarischen Genüsse entlang der Route des Grandes Alpes bieten jedenfalls genügend Stoff zum Träumen. Vor allem aber bieten sie Anlass genug, diese Träume dann auch zu erleben. Die Königin der Alpenstraßen freut sich über jeden, der sie besucht.